Zum Saisonausklang: Herz gegen Hirn, Traum gegen Trauma
Die Spielzeit neigt sich ihrem furiosen Ende entgegen – Zeit, ins Grübeln zu kommen. Der Magen grimmt, weil er noch nicht so recht an den sechsten Titelgewinn des BVB glauben mag, und das Herz macht jedes Mal einen kleinen Hüpfer, wenn im Fernsehen oder in der Zeitung ein Bericht über unsere Jungs zu sehen ist. Doch nun soll einmal der kühle Verstand das Sagen haben.
Ich gestehe! Ja, Leverkusen hat es geschafft, sich ein ganz kleines Bisschen in mein Herz zu spielen. Was haben sie mich in der CL begeistert, und als es in der Liga so aussah, dass der BVB keine Chance mehr auf den Titel hat, habe ich es den Werkskickern wirklich gegönnt, die erste Meisterschaft in die Chemiestadt zu holen. Gut, just in dem Moment, da wir wieder eine echte Chance haben, musste Bayer aus der Besenkammer, die ich ihnen im neutralen Bereich meines Fußballherzens vermietet hatte, ausziehen. Sofort. Fristlos gekündigt wegen grenzenloser Dummheit.
Doch da ich nicht nur BVB-, sondern auch Fußball-Fan bin, gibt es in meinem Oberstübchen immer noch den Gedanken, dass Leverkusen doch eigentlich gar kein Plastik-Club mehr ist. Gehasst habe ich sie nie. Ich kann eigentlich mit jedem West-Verein leben – bis auf den einen aus dem westlichen Ruhrgebiet. Den Leverkusenern wird immer vorgeworfen, sie hätten keine Tradition. Seit 1978 spielen sie aber schon in der Bundesliga und waren dort nicht immer erfolgreich. Besonders lustig finde ich es immer, wenn ein Freund von mir – ein 1860-Fan – sich über LEV aufregt und wieder das Traditionsargument aus der Tasche holt. „Die haben inzwischen mehr Bundesliga-Jahre als ihr“, sage ich ihm dann immer. Und dass Traditionen ja irgendwann auch mal beginnen müssen. Es wird ja kein Club schon als Traditionsverein gegründet.
So, reicht. So viel vom klaren Fußballverstand. Der Magen und das Herz melden sich wieder zu Wort.
Was haben meine inneren Organe in dieser Saison gelitten. Diese Berg- und Talfahrt in der laufenden Saison hat mich als hartgesottenen Achterbahnfahrer und passionierten Kirmes-Gänger in neue Grenzbereiche geführt. Dachte ich. Als eingefleischter Pessimist, war ich ja auch noch nach dem genialen Saisonauftakt davon überzeugt, dass Bayern Meister wird. Nach dem Durchhänger Mitte der Hinrunde, war alles klar: Die Qualifikation für den UEFA-Cup war mein Saisonziel. Und jetzt stehen wir wieder oben und haben es selbst in der Hand, den sechsten Titel zu holen. Doch statt in grenzenlose Euphorie auszubrechen, schleichen sich trübe Gedanken eines, wie ich dachte, längst überwundenen Traumas in meine nächtlichen Träume.
16. Mai 1992, Duisburg. Erst diesen Montag wurde mir klar, dass das Datum in Kürze sein zehnjähriges Jubiläum „feiert“. Um Gottes Willen! Da ist es wieder. Das Erlebnis vom 16. Mai steht wieder in voller Pracht vor meinem inneren Auge. Es muss so etwa 17.11 Uhr gewesen sein, als die Leute mit Radios im Wedaustadion plötzlich Tränen in den Augen hatten und die Köpfe hängen ließen. 2-1 für Stuttgart in Leverkusen, futsch der Meistertraum, ausgerechnet in meiner Heimatstadt Duisburg. Das Video, das es nach der Saison zu kaufen gab, liegt fast ungesehen bei mir im Schrank. Nach der 95-er Meisterschaft schob ich das Tape noch einmal in den Videorekorder – und drückte schon nach wenigen Minuten wieder auf „Eject“. Der zweite Versuch nach der 96-er Meisterschaft scheiterte wie auch der, nach dem CL-Sieg. Das Band ist Teil meines Traumas.
Jetzt, nach zehn Jahren stehen wir vor einer ähnlichen Konstellation: Dreikampf um den Titel. Was war damals passiert? Der Tabellenführer wurde nicht Meister, der Dritte war bis vier Minuten vor Schluss Meister, und am Ende siegte der Zweite. Der Tabellenführer wurde nicht Meister – das ist der Kernsatz. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass es diesmal anders läuft. Doch die Zweifel und die Aufregung nagen an meinen Magenwänden. Wenn ich jetzt zum Arzt ginge und ihn meinen Magen abtasten ließe – er würde mich krank schreiben. Und dieses Grummeln! Nein, Hunger ist das nicht, auch nicht der übermäßige Kaffeeverbrauch. Es ist Stress pur. Nur noch ein Tag. Aber dieser Eine ist gar nicht so schlimm. Dieser Freitag lässt sich auch noch erfolgreich mit Arbeit bestens bekämpfen! Die lange Nacht ist es, die mir Sorgen macht. Von Samstag auf Sonntag und von Sonntag auf Montag kamen Albträume von Bremer Ausgleichstreffern und bajuwarischen Siegtoren angeschlichen und ließen mich tatsächlich beunruhigt wach werden und nicht mehr einschlafen. Die Nacht von Montag auf Dienstag, bis Donnerstag auf Freitag leitete ich darum mit einer Flasche Wein ein – mit Erfolg. Mal sehen, wie es heute weitergeht. Wenn doch bloß schon Samstag wäre! Wenn es tatsächlich klappt mit der Meisterschaft, dann versuche ich es auch noch mal mit dem Video.