Im Jahre 1966 vollbrachte Dortmund "Das Wunder von Glasgow"
Borussia Dortmund hatte sich im Halbfinale gegen den Titelverteidiger von 1965, West Ham United (2:0 Endspielsieg 1965 gegen 1860 München) durchgesetzt und konnte schon mit dem Einzug ins Endspiel um den Europapokal der Pokalsieger vom größten Erfolg der Vereinsgeschichte sprechen. Der BVB hatte mit West Ham, CSKA Sofia und Atletico Madrid drei Mannschaften mit internationalem Format aus dem Pokal geworfen. Doch der Endspielgegner schien schier übermächtig:
Der FC Liverpool, Englands Meister von 1964 und 1966, Cupsieger von 1965.
Der Endspielgegner
Der Erfolg der Liverpooler war ein Verdienst ihres
Managers Bill Shankly, ein Schotte, der nur für seinen Verein lebte.
Shankly war ein Fanatiker, besessen vom Erfolg. Er regierte mit harter
Hand an der Anfield Road. Unter seiner Führung erstrahlte Liverpools
Stern wieder zu alten Glanz, wie in den zwanziger Jahren. Shankly baute
ein großartiges Team auf und war davon überzeugt, Europas beste
Vereinsmannschaft zu haben, zumindest aber Englands beste Elf. Er
scheute auch nie den Vergleich mit der Nationalelf und machte sich mit
seinen Aussagen nicht viele Freunde über Liverpool hinaus.
"Es gibt nur zwei gute Mannschaften in England", pflegte er zu sagen. Das sind unsere erste Mannschaft und unsere Reserve!"
Die Liverpooler „Reds“ waren gefürchtet. Das arrogante
Selbstbewusstsein des Managers hatte auf viele der Spieler abgefärbt.
Ein enormer Wille zum Sieg zeichnete sie aus. Um den schottischen
Stopperriesen Ron Yeats hatte Shankly eine knochenharte Abwehr gebaut.
Die Außenstürmer Thompson und Callaghan hätten wohl in jeder Nationalelf
ihren Stammplatz gehabt. Hunt und St. John ging der Ruf voraus, auch
die kleinste Chance zum Torerfolg zu nutzen.
Im Halbfinale
traffen die „Reds“ auf Celtic Glasgow und unterlagen in Glasgow 0:1.
Zuhause drehten sie in einem dramatischen Spiel, in dem ein Tor von
Celtic nicht anerkannt wurde, mit 2:0 noch um.
Willi Multhaup,
Dortmunds Erfolgstrainer hatte das Spiel an der Anfield Road gesehen,
dass bestimmt war vom knochenharten Kampf und wilde Ausschreitungen von
Celtic Fans. Was er von den „Reds“ gesehen hatte stimmte ihn sehr
nachdenklich.
Finale auf britischen Boden
Das Finale wurde, so war es von der UEFA vorher festgelegt worden im
Glasgower Hampden-Park ausgetragen, dem damaligen größten Stadion
Europas. Aber eben auf britischem Boden.
Borussia hatte auf einen Protest verzichtet, obwohl dieser Austragungsort den Engländern einen großen Vorteile einräumte. Der Fanatismus der Liverpooler Fans war bekannt, nicht zuletzt waren sie es, die die heimische Anfield Road zu einer uneinnehmbaren Festung machten. Es stand außer Frage, dass sie zu Tausenden nach Glasgow reisen würden.
Andererseits hofften die Borussen auf Rückendeckung durch das schottische Publikum, vor allem durch die Celtic-Anhänger, denen in Liverpool arg mitgespielt worden war. Sicher war dieses der Beginn einer bis heute anhaltenden Fanfreundschaft zu Celtic Glasgow.
Die Borussen flogen drei Tage vor dem Endspiel nach Glasgow. Die deutsche Nationalelf spielte zur gleichen Zeit in Dublin und Belfast und musste natürlich ohne die Dortmunder Spieler antreten. Der Europacup stellte alles in den Schatten, selbst die Bedeutung von Länderspielen.
Der Glasgower Hampden-Park hat eine große und bewegte Geschichte. Er war 1966 fast hundert Jahre alt und gehört den Queen's Park Football Club. Hier fand 1847 das erste schottische Cup-Finale statt, hier drängten sich bei einem Spiel Schottland-England im Jahre 1937 einmal 149 547 Zuschauer, hier wurden beim Europacup-Finale Real Madrid-Eintracht Frankfurt 1960 rund 128 000 Zuschauer gezählt und hier wurde der berühmte Hampden-Roar geboren, ein dumpf dröhnender, fast unheimlicher Schrei, der meilenweit zu hören ist.
Die Dortmunder bezogen Quartier im Marine-Hotel in Troon, etwa 20 Kilometer außerhalb Glasgows, wunderbar gelegen, zwischen grünen Golfplätzen an der irischen See.
Englands Presse widmete sich intensiv dem Gegner des eigenen Teams. Ein Bericht über Held und Emmerich war mit der deutschen Warnung "Achtung!" überschrieben. Willi Multhaup gab schottischen Reportern fleißig Interviews und war darum bemüht, Sympathien für seine Mannschaft zu erwerben.
Vor allem beging er nicht den Fehler, in den sein Kollege verfallen war. Bill Shankly nämlich hatte etwas geringschätzig gesagt: „Borussia Dortmund - wer ist das denn?"
Multhaup lobte Liverpool in den höchsten Tönen, stempelte die Mannschaft zum haushohen Favoriten und gab sich "glücklich, mit seiner Elf das Finale gegen diese große Mannschaft erreicht zu haben.“
Donnerstag der 5. Mai 1966
Nieselregen, tief hängende Wolken, alles grau in grau. Typisches
Inselwetter, nicht gerade einladend, aber zum Fußballspielen gerade richtig.
20 000 Fans aus der Beatle-Stadt waren gekommen, als der Hampden-Park einer letzten Inspektion unterzogen wurde, hatten die Fans der „Reds“ schon ganze Arbeit geleistet. An den Mauern standen Liverpooler Siegesparolen, die Torpfosten waren mit roter Farbe beschmiert. . .ein Malertrupp hatte den ganzen Nachmittag zu tun, um die ungebetenen Verzierungen zu übertünchen.
Auch die Borussenfans hatten sich auf die Reise gemacht. Fast 2000 waren aus Deutschland gekommen. Ernüchterung herrschte dagegen bei Borussias Kassierer Heinz Schaaf. Der mächtige Hampden-Park war nicht einmal halb voll. Aus dem erhofften großen Geschäft für den BVB wurde nichts.
Mit der Gebärde des Triumphators war Bill Shankly aus dem Bus geklettert, Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand zum "V" gespreizt.
Auf beiden Seiten konnte die stärkste Mannschaft eingesetzt werden, niemand war verletzt.
Aufstellung:
Borussia Dortmund: Tilkowski, Cyliax, Redder, Kurrat, Paul, Assauer, Libuda, Schmidt, Held, Sturm, Emmerich
FC Liverpool: Lawrence, Lawler, Byrne, Milne, Yeats, Stevenson, Callaghan, Hunt, St. John, Smith, Thompson.
Beide Mannschaft spielten ein 4-2-4 System.
Schiedsrichter des 6. Endspiels war der glatzköpftige Franzose Pierre Schwinte.
Vor dem Spiel
Bei Borussia sah das so aus, daß sich vor Hans Tilkowski zunächst einmal Wolfgang Paul als Ausputzer« aufbaute. Der hünenhafte Stopper deckte den Raum wie kein anderer, schloß Löcher, noch ehe sie entstanden und war Endstation bei allen Kopfball-Versuchen.
Vor ihm operierte eine Vierer-Kette von Abwehrspielern: Cyliax, Assauer, Redder und Hoppi" Kurrat hatte zudem die Aufgabe, Verbindung zum Mittelfeld zu halten, wo sich Aki Schmidt und Sturm bemühten, die drei Sturmspitzen „Stan“ Libuda, Held und Emmerich in Schwung zu bringen.
Die Struktur« des Gegners sah ähnlich aus. Ron Yeats putzte aus, dann kamen ein Abwehrriegel, eine Mittelfeld-Achse und die Sturmspitzen.
Allerdings war das Spiel des FC Liverpool nicht so klar gegliedert wie bei Dortmund. Griff der Gegner an, waren sieben Mann hinten. Mußte er verteidigen, standen ebenso viele Spieler in seinem Strafraum.
Beim Einlaufen der beiden Mannschaften wurden den Spieler von Borussia schnell klar, was sie erwartete: Eine freundliche Begrüßung für Dortmund, wilde Begeisterung um Liverpool. Nur mit Mühe konnten die Polizisten einige Fans davon abhalten, ihren Idolen in die Kabine zu folgen.
1. Halbzeit: Sie stürmen und stürmen...
Schiedsrichter Pierre Schwinte piff die Partie an.
Liverpool legte los wie die Feuerwehr und stürmte los. Der erwartete Überfall setzte ein.
Ganz kurz hintereinander gab es zwei Ecken für die Engländer. St. John schoß - Redder stand auf der Torlinie und wehrte den Ball ab.
Der Druck von Milne und Stevenson, von Hunt und Smith auf das Dortmunder Tor war beängstigend. Pessimisten gaben schon nach den ersten Minuten bestätigt, das Borussia keine Chance gegen die „Reds“ haben würde.
Die Engländer stürmten, stürmten, stürmten. Tilkowski mußte in höchster Not retten, Paul grätschen. Endlich, nach 13 Minuten, kam Sigi Held an den Ball und zog auf eigene Faust los, blieb aber in der vielbeinigen Abwehr der Liverpooler hängen.
Die Engländer drückten weiter, angetrieben von den Schlachtrufen ihrer Fans: „Li-ver-pool cha-cha-cha! Li-ver-pool cha-cha-cha!" Dabei klatschen die Fans rhythmisch in die Hände.
Stevenson zog seine Kreise im Mittelfeld. Seine Pässe rissen das Mannschaftsgefüge der Dortmunder auf. Bei den Borussen gab es Mißverständnisse, unnötige Ballverluste, Fehlpässe. Kaum ein Ball kam aus dem Mittelfeld nach vorn.
Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis Liverpool das erste Tor gelingen würde.
20. Minute
Nach 20 Minuten kam auch Borussia zu einem Eckball. Das Leder wurde abgewehrt und von Kurrat knapp neben das Tor geschossen.
Immer wieder dieser Stevenson. Der Mann hatte einen unglaublichen Aktionsradius! Mit einem Schuß aus 25 Metern testete er Tilkowski. Doch Borussias Nr. 1 hatte aufgepasst und drehte den tückischen Ball über die Latte.
Die Hälfte der ersten Halbzeit war gespielt, noch immer stand es 0:0, aber die Borussen-Kolonie in Glasgow und die Millionen Fernsehzuschauer zu Hause hatten nicht viel Hoffnungen. Borussia spielte um eine ganze Klasse schlechter als gegen West Ham. Was jedoch stimmte waren Kampfmoral und Einsatzwille. Jeder rannte für den anderen und so wurden immer wieder Fehler ausgebügelt. Wolfgang Paul war überall, er war der Feuerwehrmann.
Tilkowski warf sich Hunt vor die Füße, Aki Schmidt wurde von Stevensons Fuß am Kopf getroffen, fiel um, stand wankend auf, spielte weiter. Die Borussen kämpften gaben nicht nach.
Plötzlich war Smith am Ball, hatte freie Bahn, schoß - doch Tillkowski hatte aufgepaßt.
Im direkten Gegenzug kam ein Freistoß von Cyliax zu Held, der gab weiter zu Schmidt. Schuß ... aber Liverpools Torwart Lawrence stand richtig und hielt.
Borussias Angriffe waren zu selten. Emmerich und Held gelang es nicht, ihr gefährliches Wechselspiel aufzuziehen. Die Liverpooler Abwehr hatte sich gut auf die beiden eingestellt.
Willi Sturm und Kurrat waren mit Abwehraufgaben beschäftigt. Nur sporadisch konnten sie versuchen, das eigene Spiel zu machen. Borussias Spiel litt darunter, den gerade auf diesen beiden Spielern hatte Multhaup seine Taktik aufgebaut! Assauer war in diesen Minuten ein Totalausfall, er spielte schwach und nervös, fing sich allmählich.
Immer noch stand es 0:0
Die nächste Chance der „Reds“ hatte St. John, das Kopfballungeheuer aus Schottland. Doch immer wieder Tilkowski. Direkt darauf umspielte Thompson Cyliax, flankte, Redder zog den Ball riskant ins Aus.
Eine Minute später war Held endlich einmal durch. Aber Lawrence kam ihm um Sekundenbruchteile zuvor. Eine riesengroße Chance! Doch die Engländer blieben am Ball. Borussia stand weiter unter Druck.
Zum Ende der ersten Halbzeit hieß es 0:0 - noch immer! Liverpool hatte überlegen gespielt, aber kein Tor geschossen. Ein kleiner Erfolg für die Dortmunder Spieler.
Wie würde es weitergehen? Die Dortmunder fanden ihren Spielrhythmus nicht. Unter dem ständigen Druck der überlegenen Engländer haperte es am Verständnis untereinander. Bälle gingen verloren, die sonst „blind“ gespielt wurden. Der Sturm kam kaum dazu, seine Gefährlichkeit zu beweisen. „Stan“ Libuda hatte einen grottenschlechten Tag erwischt und dribbelte sich stets fest.
Die Liverpooler spielten selbstbewußter und sicherer. Der Ball lief über fünf, sechs Stationen. Bei Borussia war meist beim dritten Mann schon Endstation.
Bill Shanklys Mannschaft war schnell und hart, ging keinem Zweikampf aus dem Wege und behielt auch im harten Zweikampf meist den Ball. Die Abwehr stand ausgezeichnet. Da war kein Durchkommen, wenn nicht schnell und direkt gespielt wurde. Das aber schien Borussia an diesem Tag nicht zu können.
Willi Multhaup nahm seine Spieler zur Pause mit zufriedenem Gesicht in Empfang. Er war davon überzeugt, daß sie auch in der zweiten Halbzeit das hohe Tempo des Spiels durchhalten würden und 0:0 zur Pause war immerhin eine Ausgangsbasis.
Shankly hingegen war stinksauer und ließ die Kabinentür ins Schloß krachen. Er wusch seiner Mannschaft wegen des Spielstandes gehörig den Kopf.
2. Halbzeit – Eine Sensation nimmt ihren Lauf
Die Borussen kämpften auch in der zweiten Halbzeit - zeitweise mit dem Mute der Verzweiflung. Und aus diesem Abwehrkampf heraus erwuchs eine grandiose Leistung, die Sensation des europäischen Fußballs.
Liverpool griff wieder an. Da war Callaghan, da war Hunt, da stand St. John. Kurrat warf sich dazwischen, der lange Paul raste mit Riesenschritten durch den Strafraum und spielte ein ums andere Mal den „Feuerwehrmann“. Kleinere Brände löschte er sofort, bei größeren kam ihm Tilkowski zur Hilfe.
Eine Ecke nach der anderen hagelte an Tilkowskis Tor. Die Engländer stürmten mit unglaublicher Gewalt. Sie wollten endlich ein Tor schießen und die Entscheidung erzwingen.
Die Dortmunder Spieler wehrten sich mit gleicher Verbissenheit.
Milne schoß knapp vorbei, Hunt köpfte - Tilkowski hatte die Hand dazwischen und lenkte zur Ecke.
Tilkowski war an diesem Abend der Turm in der Schlacht und seine Kritiker in Deutschland dürften an diesem Abend Abitte geleistet haben.
Liverpool ließ nicht locker. Wie beim Handball bildeten neun Borussen um den Dortmunder Strafraum ein Bollwerk und stemmten sich den „Reds“ entgegen. Allein Sigi Held lauerte weit vorn an der Mittellinie.
Immer wieder fingen Borussias Verteidiger den Ball ab und beruhigten sich jedesmal gegenseitig. Nur ja nicht die Ruhe verlieren.
Da plötzlich startete Emmerich hinaus auf den linken Flügel, bot sich an und bekam den Ball von Assauer. Alles sah mehr nach einer Verlegenheitslösung als nach einer gezielten Aktion aus. Urplötzlich startet Held durch - zielsicher mitten zwischen Yeats und Lawler hindurch.
Held stand plötzlich vor dem englischen Tor und "Emma" hob den Ball in den Raum, der sich vor seinem Freund auftat.
Sigi Held hatte genug Platz um den Ball anzunehmen un in diesem Augenblick müssen in Deutschland Hunderttausende von ihren Stühlen, aus ihren Sesseln aufgesprungen sein und geschrien haben: „Sigi!“ oder „Schieß!“ oder auch einfach nur „Jaaa!“
Sigi Held schoß. Mit dem rechter Fuß beförderte er den Ball halb hoch in Richtung Tor. Lawrence Sprang, doch da war das Leder schon an ihm vorbei, im Netz!
Tor!
Borussia Dortmund hatte zugeschlagen, aus der Defensive gekontert und den Gegner überrascht. Ein echter Borussen-Treffer!
Die Spieler und die Fans lagen sich jubelnd in den Armen. 1:0 nach 62 Minuten.
Den Engländern blieben 28 Minuten, das Ergebnis zu korregieren. Sie versuchten es mit Macht. Das Dortmunder Tor hatte sie überrascht, aber es schien sie nicht zu schocken sondern wütend zu machen.
Hoch segelten nun ihre Flanken in den Dortmunder Strafraum. Pauls beförderte sie per Kopf wieder nach vorn oder zur Ecke ins Aus. Borussia wurde nun noch defensiver, um das 1:0 über die Zeit zu bringen. Auf beiden Seiten waren die Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Beide Mannschaften gaben das Letzte.
70. Minute: Thompson umspielte Cyliax mit einem schnellen Schlenker an der Torauslinie. Cyliax hob die Hand, der Ball war im Aus. Aber der Engländer flankte nach innen. Die Abwehr war nur einen Augenblick lang nicht im Bilde, unschlüssig, ob sie eingreifen sollte. Ein folgenschwerer Fehler!
Der große, blonde Roger Hunt lauerte vor dem Dortmunder Abwehrriegel. Der Ball kam von Thompson zu ihm. Hunt schoss sofort. Wie eine Rakete sauste der Ball ins Tor.
1:1!
Elf Dortmunder starrten sich entgeistert an. Das Stadion glich einen
Tollhaus. Hunderte von Liverpooler Fans stürzten aufs Feld, umarmten
ihre Spieler, wähnten sie bereits als Sieger. Es dauerte Minuten, ehe
der Platz wieder frei war.
Tilkowski rannte zu Schiedsrichter und redete beschwörend auf ihn ein, doch das Tor wurde gegeben.
Schwinte wies zur Mitte. Auch Reklamationen, sein Linienrichter habe bereits „aus“ gewinkt, fruchteten nichts.
Der Schiedsrichter ließ sich auf keine Diskussion ein.
Willi Multhaup war sich sicher: „Jetzt sind wir weg“.
Nun würde die Kondition entscheiden, das war klar. Und konditionell konnte Borussia mithalten, auch das war sicher.
Liverpool blieb in der Offensive. Smith schoß aus 25 Metern Entfernung unheimlich scharf und placiert. Der Ball schien unerreichbar ins Tordreieck zu fliegen. Doch Tilkowski war an diesem Tag eine Klasse für sich, er flog in die Ecke und hielt den Ball.
Die normale Spielzeit ging zu Ende. Milne versuchte nochmals sein Glück und Hunt verstolperte eine große Chance.
Schwinte pfiff. Verlängerung!
Die Verlängerung: Teil 1
Noch zweimal 15 Minuten mußten die 22 Spieler alles aus sich raus holen. Sollte dann noch keine Entscheidung gefallen sein, sollte das Spiel 48 Stunden später wiederholt werden.
Längst entschieden nicht mehr Technik, Systeme oder Taktik. Jetzt entschieden nur noch die Kraft, der längere Atem und der stärkere Wille.
Wer objektiv war, musste beide Mannschaften bemitleiden und bewundern. Sie leisteten Übermenschliches. Endlich, in dieser halben Stunde der Verlängerung, tratt der BVB aus dem Schatten des großen Gegners heraus. Das Spiel verteilte sich auf beide Feldhälften.
Die Dortmunder wuchsen über sich hinaus. Sie gaben sich nicht geschlagen. Weder durch ein irreguläres Tor, noch davon, das einige Spieler weit von ihrer Bestform entfernt waren.
Shankly verzweifelte. Er hatte die Dortmunder offensichtlich unterschätzt und nie damit gerechnet, sie könnten seinem Team ernsthaft Schwierigkeiten machen. Obwohl er Borussias Sieg bei West Ham miterlebt hatte, stand ein ähnlicher Fall einfach nicht in seiner Rechnung.
Es war undenkbar, daß die Deutschen dem Ansturm von Callaghan, Hunt, St. John und Thompson standhalten und aus der Defensive ebenso zuschlagen würden wie damals in London!
Liverpool war mit der Überzeugung aufs Spielfeld gegangen, nicht verlieren zu können. Dieser psychologische Fehler des Managers nahm der Mannschaft die Fähigkeit, jetzt, als das Spiel auf des Messers Schneide stand, den gleichen Geist der Unüberwindlichkeit und des Selbstvertrauens zu entwickeln wie die Dortmunder.
Die erste Hälfte der Verlängerung ging vorüber. Wo sie gerade standen, ließen sich die Spieler auf den nassen Rasen fallen.
Dann pfiff Schwinte wieder. Noch einmal 15 Minuten... Es wurde die denkwürdigste Viertelstunde in der Geschichte des BV 09 Borussia.
Die Verlängerung: Teil 2
Beide Mannschaften waren von Erschöpfung und Müdigkeit gezeichnet. Auch der FC Liverpool war am Ende. Die Spieler schienen nur einen Gedanken zu haben? Hoffentlich ist bald alles vorbei.
Dann, in der 107. Minute ereignete sich, was deutsche Zeitungen am nächsten Tag als das „Wunder von Glasgow“ bezeichneten.
Sigi Held startete aus der eigenen Spielfeldhälfte heraus zum Angriff. Blitzschnell überlief er die Liverpooler Deckung, stampfte über den zerwühlten Rasen und trieb den Ball vor sich her.
Lawrence sah das Unheil auf sich zukommen. Kein englischer Feldspieler konnte Held noch erreichen. Lawrence rannte aus dem Tor, Held entgegen, der nicht mehr die Kraft hatte, den Torwart zu umspielen und in weitem Bogen über ihn hinweg segelte, als Lawrence sich in seinen Schuß warf. Von der Brust des Engländers prallte der Ball ab.
Er hätte ins Aus rollen können oder zu einem Liverpooler Spieler, oder zu irgend einem anderen Punkt des Spielfeldes. Es gab tausend Möglichkeiten für den Ball, der in diesem Augenblick der menschlichen Kontrolle entzogen war.
Die 1001. Möglichkeit entschied das Spiel: Der Ball rollte zu Libuda.
"Stan" hatte bis dahin einen sehr grauenhaften Abend erlebt. Fast alles ging ihm daneben. Seine Dribblings blieben meist schon beim ersten, mindestens aber beim zweiten Abwehrspieler hängen. Seine Pässe kamen nicht an, seine Flanken schnappte sich der lange Ron Yeats. Stan" blieb alles schuldig, was ihm diesen Namen eingebracht hatte.
Ein Stan Matthews war er nicht gewesen! Jetzt stand er etwa 30 Meter schräg vor dem Tor und sah den Ball kommen.
Später schilderte Libuda Roman Köster von der Bild-Zeitung, was er in diesem Augenblick dachte und tat:
„Sigi lief durch und ich mit. Ich sah, wie der Ball abprallte und sah ihn kommen. Mit dem linken Auge bemerkte ich das leere Tor, da hab' ich abgezogen.“ Ich dachte nur eins: „Jetzt oder nie! Als der Ball in der Luft war, spürte ich, der geht rein.“
„Er ging wirklich rein"! Das Leder flog in weitem Bogen durch die Luft zur entfernten Torecke.
Mit Riesenschritten war Ron Yeats herbeigeeilt. Der Liverpooler Stopperriese sprang mit ausgestreckte Hand versuchte edn Ball noch zu erreichen. Es war ein verzweifelter Versuch, ohne Erfolg. Über Yeats segelte der Ball ins Netz.
"Tooor!" schrien die Borussenfans im Hampden Park erlöst.
Libudas Ball schlägt über Yeats in Netz: 2:1 für den BVB
Es war Donnerstag, der 5. Mai 1966, in der 107. Minute und es stand 2:1 für den Deutschen Pokalsieger.
Noch 13 Minuten!
Noch einmal versuchten die Engländer, zum Ausgleich zu kommen. Hunt hatte eine große Chance. Aber jetzt waren die Spieler aus Liverpool innerlich zerbrochen. Man spürte es. Ihre Bemühungen waren Pflichtübungen von Profis, denen man 10 000 Mark für den Sieg versprochen hatte. Den Glauben daran hatten sie verloren, das Feuer war erloschen.
Borussia hielt den Ball. Drei-, viermal spielten ihn die Verteidiger zurück zu Tilkowski. Die Zuschauer pfiffen. Sollten sie ruhig pfeifen ...
Endlich beendete Schiedsrichter Schwinte das Spiel.
Der Jubel unter den Dortmunder Fans und Spielern war grenzenlos. Multhaup rannte auf den Platz und umarmte seine Spieler.
Gustav Wiederkehr, Präsident der UEFA, überreichte bei der Siegerehrung Borussias Kapitän Wolfgang Paul den Europacup.
Wolfgang Paul erhält von UEFA Präsident Wiederkehr der Pokal überreicht
In den Augen der Spieler standen Tränen. Niemand schämte sich. Selbst die Ersatzspieler weinten. Reinhold Wosab bekannte: „Ich bin so glücklich für die anderen und so traurig, daß ich nicht dabei bin."
In Dortmund
Das Bier floß in Strömen. Hupend jagten schwatzgelb gestrichene Autos um den Borsigplatz. Die Sportlerklause von August Lenz drohte einzustürzen, als „Stan“ Libuda das zweite Tor geschossen hatte.
Sie wurden empfangen wie Weltmeister. Auf der Autobahn zwischen Köln-Wahn und Dortmund ruhte der Verkehr. In offenen Wagen fuhren die Sieger von Glasgow nach Hause. Ganz Deutschland jubelte ihnen zu, Dortmund stand kopf.
Ehrungen und Empfänge galten dem Sieger im Europacup. Der Bundespräsident verlieh ihm den Silberlorbeer, der Kanzler überreichte ihn.