Ja, ich muss es offen zugeben: Ich bin ein schrecklicher Vater. Ich habe mein Kind wissentlich und mutwillig einer großen Gefahr ausgesetzt, zumindest wenn es nach der Lesart der Konferenz der Sport- und Innenminister der Bundesländer geht. Mein Vergehen? Ich bin mit meinem sechsjährigen Sohnemann zum Heimspiel gegen Stuttgart gegangen. Was, so ganz nebenbei bemerkt, sogar ein Hochrisikospiel war. Noch schlimmer: Es war nicht sein erstes Heimspiel und ganz bestimmt auch nicht sein letztes. Warum auch?
Wenn man schon mal das seltene Glück hat, dass Borussia samstags um 15.30 Uhr ein Heimspiel hat und dann auch noch gutes Wetter herrscht, kann man einen Umstand immer wieder beobachten: Überdurchschnittlich viele Familien machen sich mit Kindern in einem Alter, in dem sie noch mit einer Schoßkarte durch den Eingang kommen, auf den Weg ins Stadion. Sie bevölkern die S-Bahnen und Busse, sie schlängeln mit ihren Kindern die Fußwege Richtung Eingangstore entlang. Alles, ohne sich permanent panisch umzugucken und nach all den Gefahren Ausschau zu halten, die ihnen von eingangs erwähnter Konferenz suggeriert werden. Sie lachen, reden, gönnen sich unterwegs eine Bratwurst und das ein oder andere Kind bekommt noch schnell einen neuen Schal verpasst, bevor das Stadion betreten wird. Alles ganz entspannt und gut gelaunt.
Wie passt das zum Aktivismus von Politikern und Polizei, die von schlimmen Zuständen rund um ein Fußballspiel berichten, vor denen man mit schärferen Maßnahmen die „echten Fans“ schützen müsse? Die Antwort ist einfach: gar nicht. Der Schutz der Kinder ist ein elementarer und fundamentaler Bestandteil des Elternseins. Die Vorstellung, dass das eigene Kinder Schaden erleiden kann, jagt einem Schauer über den Rücken und man tut sein Möglichstes, um sie zu beschützen. Wenn Eltern mit einem kleinen Kind zum Fußball gehen, dann heißt das einfach, dass sie darin keine erhöhte Gefahrenlage sehen.
Raus aus dem Elfenbeinturm, rein in die Stadien
Das heißt natürlich nicht, dass das Stadion ein völlig gefahrenfreier Ort ist – so etwas gibt es nicht. Wie in jeder anderen Situation auch, passt man sich einfach an. Wenn ich eine Gruppe muskulöser Typen mit grimmigen Gesichtern sehe, schlage ich einen Bogen herum. Genauso wie ich es in einer ähnlichen Situation in einer Innenstadt machen würde. Oder wie ich nachts an einer Bushaltestelle nicht gut sichtbar nachzählen würde, wieviel Bargeld ich dabei habe, oder bei einer Wahl mein Kreuz bei der AfD machen würde. Man erkennt Situationen, bewertet sie und verhält sich dementsprechend. So eben auch, wenn ich mit meinem Kind zum Fußball gehe. Ich halte mich etwas zurück, wenn der Auswärtsmob ankommt, bin so früh am Stadion, dass man dem größten Gewühl aus dem Weg gehe und habe mit meinem Sohn einfach eine gute Zeit. Wir fühlen uns sogar so sicher, dass ich zwischendurch alleine aufs Klo gehe, weil ich weiß, dass die Leute um mich herum, die ihre Plätze auch schon seit Jahren haben, zumindest ein halbes Auge auf ihn haben und ihm dort keine Gefahr droht.
Den „erheblichen Handlungsbedarf“, den die Minister festgestellt haben, sehen nahezu alle regelmäßigen Stadiongänger einfach nicht. Es wäre vielleicht mal eine gute Idee für die Politiker, aus ihren Elfenbeintürmen mit Beraterstäben und Strategiesitzungen herauszukommen und ein Spiel so zu erleben, wie es der Fan tut. Und damit meine ich nicht, in einer Limousine auf den VIP-Parkplatz vorzufahren und seinen Hintern durch einen Sondereingang auf die Luxussitze der Haupttribüne zu tragen. Haltet mal drei, vier Haltestellen vor dem Stadion, fahrt ÖPNV, kauft Euch eine Bratwurst (das bitte allerdings außerhalb der Stadien – vor den Fettstängelchen innerhalb möchte ich wirklich warnen) und stellt euch in der Schlange vor dem Eingang an. Erlebt den Fußball so, wie ihn die Leute wirklich erleben, anstatt ihn durch Statistiken zu erfahren.
Natürlich ist das alles kein nicht enden wollender Spaß. Im Bus hat man mal den Ellenbogen des Nachbarn in den Rippen, am Einlass erkunden manche Ordner Körperregionen, die sonst nur der Partner oder die Partnerin von einem kennt und im Stadion hört man, je nach Spielverlauf, Sprüche, die es eher nicht in den Benimm-Knigge schaffen. Aber am Ende ist es auch nicht viel anders als an jedem anderen Ort, an dem Menschen zusammenkommen.
Für meinen Sohn und mich muss niemand versuchen, diesen Ort mit unsinnigen und wirkungslosen Maßnahmen sicherer zu machen. Und wer sich samstags vor 15.30 Uhr vor einem Stadion umschaut, wird schnell feststellen, dass es viele andere auch so sehen.
Sohnemann sang übrigens auf dem Rückweg „Heja BVB“ vor sich hin. Vermutlich hält zumindest er mich nicht für ganz so schrecklich, weil ich mit ihm zum Fußball gehe.