50 Jahre Westfalenstadion Dortmund Die Oma, die Kutte und das Dach
Leider war niemand aus der schwatzgelb-Redaktion dabei, als das Westfalenstadion vor 50 Jahren eröffnet wurde. Und auch unser Autor hat von dem Spiel am 2. April 1974 seinerzeit schlicht und einfach nichts gewusst. Doch wenige Monate später hatte es sich auch in der westfälischen Provinz herumgesprochen, dass da in Dortmund etwas ganz Besonderes gebaut worden war. Über den Beginn einer schwarz gelben Leidenschaft auf der Süd Anfang 1975.
Auch wenn es sich kitschig anhören mag. Es war tatsächlich so, wie die Ultras es heute besingen.
„Ich war jung und trug voller Stolz
deinen Schal...“. Der Schal war imposante 3,50 Meter lang und hätte
mich später beinahe stranguliert, als er beim Mofafahren in die
Speichen geriet. Dafür aber mit viel Wolle und Liebe von der Oma an
langen Winterabenden für den Enkel gestrickt. Rechtzeitig zu meinem
ersten Besuch im Westfalenstadion am 18. Januar 1975 war das schwarz
gelbe Prachtstück dann fertig geworden. Fanshop und Merchandising
waren Erfindungen späterer Generationen, also musste die Großmutter
mit der Stricknadel ran. Vieles rund um den Fußball war völlig
anders als heute. Trikots ließen sich die Wenigen, die eins hatten,
nicht in der Fanwelt mit Nummern und Spielernamen beflocken, sondern
malten sie in Eigenregie daheim mit dem Edding drauf. Wer zum
Auswärtsspiel reisen wollte, ging ein paar Tage vorher zum Bahnhof,
um die Verbindungen zu erfragen.
Am 18. Januar 1975, natürlich ein Samstag, Anstoß war wie immer und überall um 15.30 Uhr, ging es zeitig nach Dortmund. An einem der zahlreichen Kassenhäuschen kaufte ich mir für zwei DM (ca. 1 €) eine Jugendkarte und zog los Richtung Süd. Schon von der Außenansicht des Stadions war ich schwer beeindruckt. Alles war um so vieles größer als das, was ich bisher vom Fußball in den unteren Ligen kannte. Selbst die Rote Erde nebenan, mein bis dato größtes Stadion, war geradezu winzig neben dem Westfalenstadion. Diese Eindrücke sollten sich noch steigern, als ich die Treppe zu Block 13 hochging und zum ersten Mal von innen Rasen und Ränge erblickte. Das war was ganz anderes als die Fernsehbilder, die ich bei der WM 1974 gesehen hatte. Völlig neben der Spur muss ich bei diesem magischen Moment wohl ziemlich lange mit offenem Mund auf der Treppe gestanden haben, denn irgendwann wurde ich nach vorn geschoben und war mitten im Block 13. Für einen 14-jährigen Gymnasiasten, der bis dahin kaum aus der Kleinstadt herausgekommen war, war das tatsächlich der Eintritt in die große Fußballwelt und irgendwie auch eine Art Start ins richtige Leben.
Mein gleichaltriger Kumpel und ich waren sofort emotional gepackt und zunächst sprachlos vor Staunen. Fasziniert von der Tribüne, fühlten wir uns wie Seefahrer, die nach langer Reise endlich das Land am Horizont auftauchen sehen.
Der Gegner im Spitzenspiel der 2. Liga Nord hieß Arminia Bielefeld und es waren 50.000 Zuschauer im proppenvollen Stadion. Auf dem Platz standen ganz normale Zweitliga-Kicker, mit Ausnahme von Lothar Huber, der später sehr lange für den BVB in der ersten Liga auflief. Bei der Arminia war es der junge Ewald Lienen, der vor einer glänzenden Zukunft als Spieler und Trainer stand.
Die Partie endete 1:1, ob mit Libero, Dreier- oder Viererkette weiß ich nicht mehr, denn wir „Kleinen“ mussten erst mal die Bräuche der Südtribüne studieren.
Schon der Dresscode war interessant. Schal war gut, je länger desto besser. Da hatte ich also bei meinem ersten Besuch schon mal vieles richtig gemacht. Am coolsten waren aber die langhaarigen Typen mit den Kutten.
Was heute auf viele veraltet und von gestern wirkt, war damals absolut „state of the art“. Die Kutte war tatsächlich die „North Face“-Jacke der 70er und 80er Jahre.
Die Welt in Block 13, so mein erster Eindruck, war rau, aber herzlich. Aus heutiger Sicht auffällig männlich, den Frauenanteil vermute ich im unteren einstelligen Prozentbereich.
Es war wild, es war laut, es war einen Hauch asozial. Das lag auch an den vielen Besoffenen, die ihre Bier- oder Schnapsflaschen mitgebracht hatten. Also genau die richtigen Zutaten, um das Gesamtpaket für einen in der Schule unterforderten und gelangweilten Teenager so richtig spannend zu gestalten.
Nur vor den Tätowierten, so hatte man uns gewarnt, hieße es, sich in Acht zu nehmen. Das waren keine bärtigen Hipster mit kunstvollen Tribal-Tattoos, sondern harte Jungs, die sich ihre Tätowierungen im Knast verdient hatten.
Der Support war damals gegen die Arminia wie auch sonst in den 70ern ziemlich anarchisch und sehr aufs Spiel bezogen. Irgendwer, oft die Kuttenträger, die sich mit lauter Stimme bereits ein gewisses Standing erworben hatten, stimmten an und der Rest der Tribüne machte mit. Oft konnte aber auch einfach jeder, der im richtigen Moment den richtigen Ton erwischte, die ganze Tribüne mitziehen. Ein paar Mal sollte mir das später mit meinen Kumpels auch gelingen.
Auffällig auch, dass es am Lautesten wurde, wenn es gegen den Schiedsrichter ging, was sehr häufig vorkam und was ich heute in den Zeiten des VAR sehr vermisse. In solchen Momenten hat´s damals unter dem Dach so richtig gescheppert.
Überhaupt das Dach, das war nämlich das eigentlich Revolutionäre am Westfalenstadion. Nicht nur als Stimmungskatalysator, unter dem Dach bliebst du selbst auf dem billigsten Stehplatz trocken. Überdachte Stehtribünen - heute selbstverständlich - waren damals tatsächlich eine epochale Innovation.
Der Besuch eines Fußballspiels war dadurch von den äußeren Bedingungen entkoppelt, das war ein absoluter Pluspunkt für die Borussia, der von den Fans begeistert angenommen wurde und dafür sorgte, dass der BVB selbst als Zweitligist zum absoluten Zuschauerkrösus aufstieg.
Noch Jahre später stand einem das Wasser auswärts in Duisburg oder Gelsenkirchen in den Schuhen und man freute sich schon auf das nächste Heimspiel unter dem Dach.
Heute glaube ich, dass ich damals in der Saison 1974/75 vor allem wegen des Stadions und der Atmosphäre auf den Rängen zum BVB-Fan wurde. An den überschaubaren Leistungen der Mannschaft in der Zweiten Liga lag es bestimmt nicht.
Mit der Zeit erlag ich, obwohl Meisterfeiern oder Champions League-Abende noch nicht einmal zu erahnen waren, immer mehr der Magie des Westfalenstadions, ging nun immer öfter hin und war dabei, als der BVB 1976 mit einem 3:2 gegen den 1.FC Nürnberg wieder in die Bundesliga aufstieg. Ein unvergesslicher Abend und ein süßer Vorgeschmack auf die Triumphe späterer Jahrzehnte. Leider verlor ich beim Platzsturm nach Spielende im Chaos auf dem Rasen den von der Großmutter gestrickten Schal. Dafür sorry, liebe Oma.