Unsa Senf

Mein Spieltag - Meine Emotionen

14.10.2022, 14:19 Uhr von:  Nina T.
Auf der Südtribüne, das Banner sagt: "FOR WOMAN IRAN"
Banner auf der Tribüne zur Unterstützung der #IranProtests

Dieser Text ist mir nicht leicht gefallen, daher kommt er mit etwas Abstand zu dem Spieltag, der ihn inspiriert hat. In der Kategorie "Unsa Senf" meine Gedanken zu Spiel- und Weltgeschehen.

Triggerwarnung: Wer findet, Fußball hat nichts mit Politik oder Weltgeschehen zu tun und das hätte auch in keinem Artikel darüber aufzutauchen… Ich drücke Euch die Daumen für den nächsten Artikel, aber den hier braucht Ihr nicht lesen.

Die Vorgeschichten

Corona

Der Tag begann damit, dass meine Freundin unsere Verabredung absagen musste, weil sie ihren Mann zum Notarzt oder vielleicht sogar zur Notaufnahme bringen musste. (Bis jetzt habe ich nichts mehr von ihr gehört.) Dann musste ich jemanden nach der OP - im dritten Anlauf, durch den massiven Personalmangel - aus dem Krankenhaus abholen. (Montagmorgen werde ich wieder jemanden ins Krankenhaus bringen, in der Hoffnung, dass dieser Eingriff im ersten Anlauf durchgeführt werden kann.) Auf dem Weg nach Hause der erste Versuch, das benötigte Medikament zu bekommen: “Kann ich Ihnen für Montag bestellen.” Zwischen dem Friseurtermin und dem Spiel also noch eine Apotheke finden, die die dringend benötigten Medikamente überhaupt und in der verschriebenen Packungsgröße führt. Die Gefahr ist längst nicht (für alle) gebannt.

Ukraine

Mein Friseur hat kurze Zeit, nachdem der Krieg ausgebrochen ist, eine Friseurin eingestellt, die aus der Ukraine geflohen war. Für die Verständigung ist ein bisschen Englisch hilfreich, andererseits “Haare ab, so viel.” geht auch mit Zeichensprache. Ich brauche die Sprache eh beruflich, also bin ich gerne bei ihr. Sie ist eine Seele von Mensch, super vorsichtig und sanft, mit allem, was sie macht. Sie redet nie darüber, wie es ihr geht. Wahrscheinlich nicht gut, was soll ich da fragen? Sie ist ein großer Harry Potter-Fan, also reden wir darüber. Ich denke trotzdem immer darüber nach, wie sie sich fühlen muss und so sehr ich sie mag, ich wünsche mir sehr, dass ich eines Tages keine Termine mehr bei ihr bekomme, weil sie in ihre Heimat zurückkehren konnte. Da tut es natürlich doppelt weh, wenn man dann Aussagen wie von Herrn Merz liest, die Geflüchtete diffamieren, oder dass es Probleme mit dem Satelliten Star Link gibt, der sich in Privatbesitz befindet. Dessen Besitzer Elon Musk sich zufällig noch vor Kurzem dazu geäußert hat, wie der Konflikt denn nun zu lösen sei.

Iran

Auf dem Weg zum Stadion wäre ich fast noch in Polizei-Begleitung geraten… Unsere Ultras hatten einen ähnlichen Weg gewählt wie ich. Ich habe also kurz gewartet und auf Twitter einen Re-Tweet vom BVB zum Sky-Kinderspieltag-Dings-Irgendwas - Hashtag Next Generation, oder so - gesehen. Ich dachte, dass die Kids vielleicht auch ohne Sky-Abo das Spiel schauen könnten und habe darauf geklickt. Nee, nichts dergleichen gefunden, dafür aber einen Kommentar: “Hey, BVB, ihr habt letzte Woche einen Fan verloren.” und das Bild eines Mädchens, einer sehr jungen Frau, im Dortmund-Trikot. Weil ich weiterlaufen konnte, hab ich den Bildschirm gesperrt und das Telefon in die Tasche gesteckt. Später war der Kommentar ausgeblendet! Das passte wohl nicht so zum Kinderspieltag-Dings-Hashtag-Next-Generation… Dank meiner Mit-Fans vom BVB Fanclub Iran, die ein Banner im Stadion vor der Südtribüne hatten, weiß ich mittlerweile, dass es um die 16-Jährige Sarina Esmailzadeh ging, die an den politischen, feministischen Protesten im Iran teilnahm und deswegen am 23. September von Sicherheitskräften mit Schlagstöcken getötet wurde. Danke auch an meinen Verein, der diesen Tweet dazu machte:

Da die Bildbeschreibung leider fehlt:

Perspektive: Blick die fast volle Südtribüne von Block 10 hoch, im Vordergrund prominent das Banner.

Links Text (ca. ⅘ der Breite): “Hey, BVB, last week you lost a Fan. Sarina Esmailzadeh (16) was killed by the Islamic Regime of Iran #iranprotests Be Sarina’s voice! #MashaAmini (Info: Masha Amini war die erste, die bei den Protesten zu Tode kam) Rechts (ca. ⅕): Ein porträt-ähnliches Bild von Sarina im BVB Trikot der Saison 21/22.

Die Berichterstattung zu diesen Protesten war zunächst hauptsächlich in den sozialen Medien, von Betroffenen selbst. Dann wurde dem Internet im Iran der Stecker gezogen und es gingen Anleitungen durchs Netz, wie man mit seinem eigenen Zugang auch für Menschen im Iran eine Möglichkeit schaffen kann. Mittlerweile gibt es Berichterstattungen, die aber leider größtenteils durch die gefilterten Information des Regimes verfälscht sind. Anders ist die Headline “Iran kommt nicht zur Ruhe, Protestierende werfen Molotow-Cocktails auf Sicherheitskräfte” nicht zu erklären. Ja, was denn sonst? Ich kann nicht mehr zählen, wie viele Bilder ich schon von jungen Menschen, neben Sarinas, gesehen habe, die ihr Leben im oder nach dem Gewahrsam eben dieser Sicherheitskräfte verloren haben. Es ist markerschütternd, ganz besonders, weil einfach nur Selbstverständlichkeiten zu so hohen Preisen erkämpft werden müssen. Schon wieder. Auch in diesem Teil der Welt.

Auf der Südtribüne, das Banner sagt: "FOR WOMAN IRAN"
Banner auf der Tribüne zur Unterstützung der #IranProtests

Randnotiz:

Weil ja niemand zu 100 Prozent sagen kann, was nach dem Tod mit einem passiert, haben wir uns irgendwann dazu entschieden: Im Stadion gilt Wiedergeburt.

Die Tauben sind also, zum Beispiel, mein Fußball-verrückter Ur-Opi, der damals aus der Schweiz nach Dortmund gereist kam, um unsere Borussia in der Roten Erde international spielen zu sehen.

You’ll never walk alone

Nach den Vorgeschichten dürfte klar sein: Ich stand ohnehin sehr angefasst auf der Tribüne beim Spiel. Ich weiß, dass einigen das Lied auf den Senkel geht, aber für mich hat es voll ins Schwarze getroffen. Direkt bei den ersten Klängen von “You’ll never walk alone” ging es los. “Wenn Du durch einen Sturm gehst, halte Deinen Kopf hoch und hab keine Angst vor der Dunkelheit.” und durch meinen Kopf läuft alles, was ich hier vorher beschrieben habe. “Am Ende des Sturms wartet ein goldener Himmel und der süße, silberhelle Klang der Lerche. Geh weiter durch den Wind. Geh weiter durch den Regen. Auch wenn Deine Träume beinahe den Bach runter gehen (freiere Übersetzung).” Zwei Tauben flogen unter dem Tribünendach entlang, ich dachte an Sarina und hoffte, sie wäre eine von den beiden. Ich konnte nur noch verschwommen sehen. “Geh weiter. Geh weiter. Mit Hoffnung im Herzen und Du wirst niemals alleine gehen.” Ich sang nicht mehr nur für meine Mannschaft und die BVB-Familie. Das Lied umfasste so viel mehr. “Geh weiter. Geh weiter. Mit Hoffnung im Herzen und Du wirst niemals alleine gehen.”

Auf der Tribüne

An diesem Punkt des Tages hätte ich mich auf meiner Couch zusammenrollen und einfach richtig heulen können.

Zum Glück stand ich auf einer Tribüne und es galt ein Spiel zu gewinnen. Ich konnte meine Hilflosigkeit in die Aufstellung schreien, meine Wut und meinen Frust in die Fouls der ersten Minuten brüllen. Und ich hatte Gemeinschaft - auch wenn ein bescheuertes Bundesligaspiel nicht im Ansatz mit dem zu vergleichen ist, was ich vorher beschrieben habe - es half in der emotionalen Aufruhr, sich nicht alleine zu fühlen und sich auf etwas anderes konzentrieren zu können.

Trotzdem hätte ich schon nach 27 Minuten eine doppelte Halbzeit gebrauchen können, alles raus zu lassen war gut und wichtig, aber dahinter warteten Leere und Erschöpfung. Da half es, dass jede*r an diesem Abend bereit war, einen Schritt über die eigene Grenze zu gehen: Die Leistung unserer Mannschaft nach dem Kraftakt in Sevilla in der ersten Halbzeit, dass Rapha in der 30. Minute fast sein Tor kopieren kann, nur damit der Gegner drei Minuten später mit seiner ersten Chance in Führung geht… Das hätte uns verstummen lassen können.

“Ist ja eh alles wie immer, da kann man nichts machen.” Dennoch waren es nur Sekunden nach dem Rückstand, bis man wieder weiter machte. Die gute Chance von Marius direkt nach der Halbzeit, aber dann das Gegentor. Selbst dieser zweite Treffer, der ja noch mehr dafür sprach, dass es gleich das dritte gibt und wir am besten nur noch Kraft für die Champions League sparen, zeigte zwar etwas mehr Wirkung, dafür waren im Anschluss noch mehr da. Die Wechsel signalisierten: Wir geben nicht auf!

Der Vater-und-Sohn-Anschlusstreffer, der so un-egoistisch herausgespielt wurde, fühlte sich schon an wie ein Ausgleich. Das ganze Stadion zog mit, obwohl der Ausgleich zweimal sehr unglücklich doch nicht fiel. Wir wollten ebenfalls nicht aufgeben.

Und am Ende - nur Sekunden, bevor man mit null Punkten, der achten Niederlage in Folge und einem ausgeglichenen Torverhältnis da steht - hat es sich gelohnt, weiterzumachen, durchzuhalten. Zum großen Teil, weil ein Abwehrspieler dem Ball bis zur Auslinie hinterherrennt und eine Flanke schlägt, die mittlerweile mehrfach Heiratsanträge bekommen hat, aber auch, weil der Stürmer nicht verzweifelt ist. Selbst das Teilen der Punkte fühlte sich fantastisch an und wurde gefeiert wie ein Sieg.

Ich war raus aus dem Loch, in das ich zu fallen drohte.

Heimweg

Sofort als ich aus Block kam, überschritt ich die Schwelle zurück in die Realität: Ein Fan lag auf einer Trage am Boden, sechs Sanitär*innen kümmerten sich um ihn. Ein anderer Fan erzählte mir auf der Treppe, der junge Mann sei im Block zusammengebrochen und sie hätten ihn nicht wieder wach bekommen. Ich hoffe sehr, es geht ihm heute wieder gut!

Mir rief der Anblick wieder in Erinnerung, was mich den ganzen Tag beschäftigt hatte, aber ich konnte nun etwas distanzierter darüber nachdenken.

Hoffnungsvolle Gedanken

In der Regel lässt man sein Alltags-Ich an den Toren zurück und ebenso umgekehrt. Ich finde, wir sollten damit aufhören: Was wäre, wenn wir unser Stadion-Ich auch ins gesellschaftliche Leben mitnehmen würden?

Eine Grätsche, die anderswo zur Kenntnis genommen wird, löst ernsthaft eine ähnliche Begeisterung aus wie ein Tor. Können wir nicht auch z.B. den Helden unseres Alltags die gleiche Unterstützung, den gleichen Respekt und die gleiche Begeisterung entgegenbringen? Die Masse ist mächtig und sie kann viel bewegen, wenn sie entschlossen ist, das wissen wir im Stadion - draußen vergessen wir das zu oft!

Im Stadion kommt man klatschnass durch den Anmarsch im Regen an, es kann Winter sein mit Temperaturen nur knapp über null Grad… Richtig unangenehm, aber wir sind bereit dazu. Draußen fällt uns der Weg aus unserer Komfortzone viel schwerer, wir denken gar nicht erst darüber nach, weil “Da kann man eh nichts machen.” Der Schritt über die eigene Grenze wird nicht in Betracht gezogen, weil “Auf mich kommt es ja nicht an.” oder “Ich kenne mich da nicht aus.”. Nun, Nico Schlotterbeck ist definitiv kein Offensivspieler, aber er war da und er konnte die Vorlage geben. Möglicherweise gilt das doch auch für uns!

Eine Anthony Modeste, der übrigens als einziger Spieler das Banner für Sarina auf seinem Account geteilt hat - Danke dafür, Tony! - konnte, trotz eigener Torflaute, den Blick für Youssoufa Moukoko haben. Und wir haben ihn dafür gefeiert! Das wollen wir sehen: Teamgeist, eine Mannschaft, die füreinander da ist. Also können wir doch auch unseren Blick öffnen… Und un-egoistisch die Schicksale unserer Mitmenschen beachten, ein Team und füreinander da sein.

Weil es dann nicht “zu spät” ist, weil man einen Rückstand aufholen kann, weil man zusammen eben alles schaffen kann… Und sei es in der allerletzten Sekunde!

Es gibt eine Menge Menschen und Anliegen auf der Welt, die unsere Unterstützung dringend brauchen. Aber niemand schafft das alleine, es zermürbt einen.

Und wieder ist es - wie auch im Stadion - keine Plattitüde: Wir brauchen jede*n.

Ja, auch Dich.

...and you'll never walk alone!

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