„Zurück zu vollen Stadien“ – ja, aber wie? Kommentar zu den Stellungnahmen von SÜDTRIBÜNE DORTMUND
Als ich nach über 18 Monaten beim Heimspiel gegen Eintracht Frankfurt wieder das Westfalenstadion betrat, machte sich in mir ein diffuses Gefühl aus Vertrautheit und gleichzeitiger Fremdheit breit.
Sicher: es gab kleine Momente, da ging der Kopf für einen Augenblick aus und die bekannten Emotionen, die man bereits hundertfach erlebt hat, nahmen Überhand. Die meiste Zeit beherrschte allerdings der Verstand die Gefühlswelt: dieses Stadionerlebnis ist nicht so, wie es eigentlich sein sollte. Nur 25.000 Menschen, kaum Fahnen, keine organisierte Stimmung, bekannte Gesichter überall im Stadion verteilt, irrsinnig viel Platz – mit etwas Abstand macht man sich schnell bewusst, dass trotz vereinzelt schöner Momente die wesentlichen Faktoren eines gewohnten Stadionerlebnisses noch fehlen.
Ich glaube, man lehnt sich nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn man sagt: so oder so ähnlich geht es jedem Stadionbesucher und jeder Stadionbesucherin momentan auch. Dies schlägt sich auch in der Kartennachfrage nieder, wie Caroline kürzlich gut zusammengefasst hat. Folgerichtig hat das Kollektiv SÜDTRIBÜNE DORTMUND zum Saisonbeginn und im Rahmen des Auswärtsspiels bei Bayer Leverkusen Stellungnahmen veröffentlicht, deren Stoßrichtung eindeutig ist: man fordert die Rückkehr zu vollen Stadien oder jedenfalls eine Perspektive, einen Fahrplan, mit dem unsere Fußballwelt wieder zurück zur Normalität findet. Die aktuelle Maßgabe lautet derweil: alle, oder keiner. Begleitet wurde das jüngste Statement mit einer kleinen optischen Aktion vor dem Leverkusener Stadion.
Ein ähnlich diffuses Gefühl wie bei meinem ersten Stadionbesuch nach Beginn der Pandemie beschlich mich jedoch auch beim Lesen der beiden Stellungnahmen. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Beginnen wir zunächst mit dem grundsätzlichen Anliegen: die Forderung, dass es im Fußball eine Perspektive für einen normalen Stadionbesuch ohne Einschränkungen und mit vollen Stadien braucht, ist völlig legitim. Wenn in der gesamten Gesellschaft in Bezug auf Wirtschaft und Freizeitveranstaltungen solche Diskussionen angestoßen werden, ist nichts Verwerfliches dabei, diese Debatte auch beim Fußball zu führen. Insoweit ist es auch müßig, dass derartige Forderungen (sei es in den Stadien auf Spruchbändern oder in Stellungnahmen der Fanszenen) häufig als unzulässig, Corona-verharmlosend oder in sonstiger Weise diffamiert werden. Was sollte man denn anderes tun, als sich darüber Gedanken zu machen, wie man schnellstmöglich wieder einen gesellschaftlichen Normalzustand erreicht?
Diese Diskussion ist nicht nur in sich sinnvoll, sondern auch gesellschaftlich wichtig, damit die Beteiligten zumindest – im Rahmen der gegebenen Umstände – eine halbwegs verlässliche Perspektive entwickeln können. Ein großes politisches Versagen der letzten 18 Monate lag sicherlich darin, Vorhaben und Perspektiven nicht oder zumindest nicht nachvollziehbar kommuniziert zu haben. Sicher: die Krux an einer Pandemie ist nun einmal, dass sie von zahlreichen Unwägbarkeiten begleitet wird, dass selbst Expertinnen und Experten ständig neue Erkenntnisse gewinnen, dass sich Einschätzungen mit Wissenszuwachs verändern. Gleichzeitig hat man mitunter den Eindruck, dass vielerorts einfach nur „auf Sicht“ gefahren wurde, anstatt als Gesellschaft klare Ziele auszuhandeln und diese zur Maxime des politischen Handelns zu machen.
Damit sei also deutlich betont, dass diese Diskussion auch im Fußball geführt werden muss. Die in den beiden Stellungnahmen aufgebrachten Ansätze und Forderungen lassen mich jedoch an mehreren Stellen etwas ratlos zurück.
Um die wesentlichen Punkte und Forderungen insbesondere in der zweiten Stellungnahme vom 11. September kurz zusammenzufassen: gefordert wird die Rückkehr zu vollen Stadien, gleichzeitig wird Kritik an der beim BVB angewandten 2G-Regelung vorgebracht - wobei diese auch nur teilweise gilt, da es immerhin ein Kontingent von 1000 Karten für Personen gibt, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht impfen lassen können. Woran es bei der Argumentation allerdings vor allem hapert, sind die aufgeführten Gegenbeispiele aus anderen europäischen Staaten.
Wenn etwa Dänemark erwähnt wird, wo inzwischen wieder ohne jegliche Einschränkungen mit Vollauslastung Fußballspiele stattfinden, unterschlägt man, dass dort die Impfquote schlicht und ergreifend gravierend höher ist als in Deutschland. Zum Vergleich: bei den Über-12-Jährigen liegt sie im skandinavischen Nachbarland bei ganzen 83 %, hierzulande jedoch gerade einmal bei 69 % (Quelle). Bei den besonders gefährdeten Gruppen über 60 Jahre sind es sogar 95 % gegenüber 83 %.
Ich bin kein Virologe, nichtsdestotrotz scheint hier ein entscheidender Unterschied zu liegen.
Darüber hinaus wird auch auf die Situation in Österreich verwiesen. Dort wird vor vollen Stadien gespielt, aber ein 3G-Konzept angewendet. Auch hier erschließt sich der Vergleich für mich nicht so ganz: die Ablehnung der 2G-Regel beim BVB wird – insoweit nachvollziehbar – damit begründet, dass man eine Verstetigung von personalisierten Tickets und erweiterten Kontrollen auch nach der Pandemie befürchtet. Dass Fußballfans, die von Behörden und Verbänden mitunter drangsaliert werden, solche „Überbleibsel“ fürchten, ist dabei mitnichten ein paranoider Gedanke, sondern in anderen Ländern schon seit Jahren traurige Realität: man denke nur an die berüchtigte italienische Tessera del Tifoso, die Jahrzehnte alte Fankurven gespaltet und zerstört hat. Insoweit sind solche Sorgen völlig verständlich.
Genau hier liegt aber auch das Problem: wenn man die 2G-Regel mit dieser Begründung ablehnt, erübrigt sich auch der Blick nach Österreich: schließlich gehen mit der dortigen 3G-Regelung die gleichen, wenn nicht mehr Kontrollen einher.
Beide Beispiele führen zu meinem Kritikpunkt an der Stellungnahme, denn sie haben eine Gemeinsamkeit: wenn nach Dänemark geschielt wird, aber die dortige Impfquote unterschlagen wird, wenn Österreich vorgebracht wird, aber die 3G-Kontrollen nicht mit solchen einer 2G-Regel gleichgesetzt werden, dann wird man in beiden Fällen der herausragenden Bedeutung des Impfens nicht gerecht. Dies ist in meinen Augen die große Schwäche des Texts: Wenn man das herausragend solidarische Verhalten der aktiven Fanszene (Nachbarschaftshilfen, Spendenaktionen und vor allem der individuelle Verzicht auf das Erlebnis Borussia Dortmund) betrachtet, wäre die logische Konsequenz doch zunächst nicht mehr und nicht weniger als ein einfacher Dreischritt: Impfung, 2G-Regel, volle Stadien (ob die 2G-Regel bei einer mit Dänemark vergleichbaren Impfquote überhaupt angewandt würde, sei ohnehin mal dahingestellt - dann sprächen nämlich viele gute Gründe dafür, überhaupt keine Kontrollen mehr durchzuführen).
In einer ursprünglichen Version des Textes stand hier sinngemäß: „Natürlich müssen in einem Kollektiv wie SÜDTRIBÜNE DORTMUND Interessen gebündelt werden, deshalb ist es nachvollziehbar, dass sich in einer solchen Stellungnahme kein Impfaufruf oder Ähnliches wiederfindet“. Eigentlich denke ich aber: wieso nicht? Gerade weil zahlreiche deutsche Fanszenen bewiesen haben, wie solidarisch sie sich in der Pandemie verhalten haben, wäre ein Verweis auf die dringend notwendigen Impfquoten für einen normalen Stadionbesuch nur folgerichtig.
Um den Bogen zum Beginn des Textes zu schlagen: es ist an der Zeit, dass wir im Fußball eine Debatte über das Vorgehen in den kommenden Monaten führen und selbstverständlich müssen sich die Fanszenen hierbei auch einbringen. Wenn lediglich Verbände und Behörden über den Stadionbesuch befinden, droht genau das, was von vielen Fans befürchtet wird: die schleichende Beibehaltung von Kontrollmaßnahmen, die unserer Auffassung eines Stadionerlebnisses fundamental widersprechen. Die Stellungnahme von SD drückt sich aber in meinen Augen insbesondere beim Thema Impfung um den einzigen Auswege der uns aus der aktuellen Zwickmühle herausbringt. Das ist aber selbstverständlich nur meine Auffassung – aushandeln müssen wir es gemeinsam als Fanszene.