Der Fußball und sein Tönnies-Problem
Clemens Tönnies hat den sportlichen und finanziellen Niedergang des FC Schalke mit zu verantworten. Der aktuelle Corona-Skandal um den Aufsichtsratsvorsitzenden sorgt für weitere Unruhe. Wann verschwinden Menschen wie Tönnies endlich aus dem Fußball?
Dass Tönnies und sein riesiger Schlachtbetrieb derzeit für den größten Corona-Hotspot Deutschlands verantwortlich sind, ist schlimm genug. Bekämpfung und Aufarbeitung des Ausbruchs werden allen Beteiligten viel Zeit und Energie kosten. Im Sinne aller erkrankten Menschen und ihrer Angehörigen bleibt die Hoffnung auf möglichst wenig schwere Verläufe und schnelle Genesung.
Für gewöhnlich ist das kein Thema für ein Fußball-Fanzine. Aber Clemens Tönnies ist als Aufsichtsratsvorsitzender des FC Schalke eben auch ein einflussreicher Mensch im Fußballgeschäft. Und obwohl er in den letzten Jahren mehrfach negativ aufgefallen ist – um es an dieser Stelle noch freundlich zu formulieren – mischt er immer noch oben mit.
Kolonialismus ohne Scham
Da wäre der vom Fleischproduzenten offen geäußerte Rassismus gegenüber in Afrika lebenden Menschen. Statt angesichts des Klimawandels die Steuern für Unternehmen zu erhöhen, solle man lieber 20 Kraftwerke in Afrika finanzieren, denn: „Dann würden die Afrikaner aufhören, Bäume zu fällen, und sie hören auf, wenn’s dunkel ist, Kinder zu produzieren.” Diese Forderung Tönnies’ ist kein Jahr her. Damals wusste man gar nicht, wo man anfangen sollte: Beim plumpen Weltbild, in dem „Afrika” ein homogenes Gebilde ist, ungeachtet geografischer, ethnischer und soziokultureller Unterschiede? Oder beim Vorurteil, Schwarze – denn genau die meinte Tönnies – würden ohnehin nichts anderes tun als simple Arbeit und verantwortungslos Kinder zu zeugen? Dass er Menschen, die vielerorts unter schlechten Bedingungen arbeiten und leben müssen, eine Mitschuld am Klimawandel gab? Geschenkt.
Eine Fußballbranche, der Dinge wie Toleranz, Vielfalt und Antirassismus wirklich wichtig sind, hätte diesen Mann mit aller Deutlichkeit in die Schranken gewiesen. Doch egal ob Verbände, andere Vereine oder Funktionäre: Die Kritik an seinen Äußerungen genügte teilweise nicht mal dem Mindestmaß an Anstand gegenüber den Betroffenen. Rassismus? Der sei natürlich unter keinen Umständen zu tolerieren. Trotzdem wurden Tönnies’ Aussagen von Weggefährten aus Fußball und Politik relativiert. Jemand wie Tönnies könne kein Rassist sein, schrieb zum Beispiel Huub Stevens. Und überhaupt: Die Aussagen des Fleischproduzenten seien zwar drastisch, mit Blick auf den Klimawandel aber richtig gewesen. Diese Einschätzung stammt von Wolfgang Kubicki, immerhin Bundestagsvizepräsident. Dem Fußball konnte man also nicht mal vorwerfen, mit seiner Tatenlosigkeit allein dazustehen.
Selbstjustiz mal anders
Konkret sah die so aus: Die DFB-Ethikkommission wertete die Äußerungen als rassistisch – Tönnies selbst sei jedoch kein Rassist, erklärte sie. Trotz eines Verstoßes gegen die DFB-Satzung wurde kein Verfahren eingeleitet. Ein noch größeres rhetorisches Kunststück hatte zuvor der Ehrenrat des FC Schalke vollbracht. Der Aufsichtsratsvorsitzende habe zwar gegen das in Satzung und Leitbild verankerte Diskriminierungsverbot verstoßen, Rassismus sei ihm jedoch nicht vorzuwerfen. Ja was denn bitte dann?
Auf den zweiten Blick sind die Erklärungen der Gremien von DFB und S04 keine großen Überraschungen. Das passiert eben, wenn weiße Menschen, die nie von Rassismus betroffen sind, über ein Problem diskutieren, das sie nicht kennen. Alle berücksichtigten auch Tönnies’ Bedürfnis, nicht als Rassist bezeichnet zu werden. Denn so etwas ist man heute ja nicht mehr.
Am Ende ließ Tönnies sein Amt als Aufsichtsratsvorsitzender für drei Monate ruhen. Zweifel, dass der Beschuldigte bei der “Strafe” ein großes Wörtchen mitzureden hatte, hat der Schalker Ehrenrat bis heute nicht ausgeräumt. Selbstjustiz mal anders. Mit Kornelia Toporzysek trat ein Ehrenratsmitglied kurz darauf zurück; im Interview mit 11Freunde berichtete sie kürzlich vom „System Tönnies”, dem sich auch der Ehrenrat zu beugen habe. Nach seiner Auszeit arbeitete Tönnies weiter, als sei nichts geschehen.
All das sagte viel darüber aus, wie sehr Werte wie Antirassismus von vielen Entscheidungsträger*innen im Fußball tatsächlich gelebt werden: Im Zweifel lieber nicht. Zumindest dann nicht, wenn es um Konsequenzen gegen einen der ihren geht. Den umgekehrten Fall konnte man vor wenigen Monaten übrigens im Fall Dietmar Hopp beobachten. Mögen die Ereignisse, weil vor Corona, weit weg scheinen, haben sie bei vielen Anhänger*innen Spuren hinterlassen. Der Mäzen der TSG Hoffenheim wird seit Jahren für sein Engagement von Fans aller Vereine scharf kritisiert, teilweise auch beleidigt. Über die Angemessenheit wird auch in Fankreisen immer wieder diskutiert. Statt die Beleidigungen von fundierter Kritik zu trennen, entschlossen sich im März zuerst Funktionäre des FC Bayern spontan, mit aller Härte gegen die Schmähungen vorzugehen. Es entbrannte eine Diskussion, in der Fans sich der Einheit von Vereinen, Verbänden und Boulevard gegenübersehen. Auf einmal wurden Grenzen verwischt und die Anfeindungen gegen Hopp und sein Fußball-Modell auf eine Stufe gestellt mit Rassismus oder Homophobie. Die Bild befeuerte die Geschichte auf ihre Weise, von vielen Seiten gab es Solidaritätsbekundungen. Welch ein Schlag ins Gesicht für Menschen, die in Deutschland tatsächlich und mitunter tagtäglich diskriminiert werden. Hopp und Tönnies – die beiden Fälle zeigen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Beide Male gewann der Opportunismus.
Man muss kein Vollblut-Rassist sein, um rassistische Dinge zu sagen
Clemens Tönnies hat seine Äußerungen aus dem vergangenen Sommer offiziell bedauert und sich entschuldigt. Wie ehrlich das gemeint war, bleibt offen, Zweifel sind jedoch angebracht. Seine Gedanken hatte er schließlich nicht im stillen Kämmerlein kundgetan, sondern vor 1.600 Teilnehmer*innen einer öffentlichen Veranstaltung. Dass Tönnies in solch großer Runde keine Skrupel hatte, koloniale Vorurteile zu reproduzieren, ist bemerkenswert. Unwahrscheinlich, dass ihm das Ganze einfach so rausgerutscht ist. Tönnies mag bisher nicht mit diskriminierenden Äußerungen aufgefallen sein, zumindest nicht öffentlich. Er zeigte bisher auch keine Nähe zur AfD und trat nicht bei entsprechenden Veranstaltungen auf. Kurzum: Er entspricht nicht dem allgemeinen Bild eines typischen Rassisten.
Aber: Um rassistische Dinge zu sagen oder zu tun, muss man kein 24/7-Vollblut-Rassist sein. Wenn ein mächtiger Mensch wie Clemens Tönnies öffentlich rassistische Ressentiments reproduziert, dann hat er einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran, ein System aufrecht zu erhalten, in dem Schwarze beziehungsweise nicht-weiße Menschen strukturell diskriminiert werden und keinen oder zumindest erschwerten Zugang zu Machtpositionen haben. Im Fußball sieht das dann wie folgt aus: Wie der Deutschlandfunk kürzlich herausgearbeitet hat, sind von 273 Menschen in den Führungsgremien der 18 Erstligisten nur drei People of Color, also nicht-weiße Menschen – obwohl ihr Anteil an der Bevölkerung in Deutschland deutlich höher ist.
Warum kommt es dazu? Bettina Rulofs, Sportsoziologin an der Uni Wuppertal, sagte dem Deutschlandfunk, dass diese Art der strukturellen Diskriminierung von den meisten Personen in den Gremien nicht mal mit purer Absicht ausgeübt würde: „Aber es ist eine Form der Diskriminierung, die sich sozusagen über die Dauer ergibt und durch die eingespielten Prozeduren und Machtspiele. Es ist so, dass die Selektionsprozesse in Führungsgremien des Sports nicht auf Diversität oder dem Anspruch nach sozialer Vielfalt basieren, sondern es geht meistens darum, eine Homogenität herzustellen.” Ein Gedanke, den man beim Blick auf die starken Personen im Fußballgeschäft nachzuvollziehen kann: Leute wie Rummenigge, Tönnies, Hopp, Hoeneß oder auch Watzke sind erfolgreiche Unternehmer mit Netzwerken in Sport, Wirtschaft und (lokaler) Politik. Solche Dinge würden Menschen mit Migrationshintergrund, aber auch Frauen viel seltener zugetraut, erklärte Rulofs dem Deutschlandfunk. Auch Zweitere sind in den Vorständen, Präsidien und Aufsichtsräten der Erstligaklubs deutlich unterrepräsentiert: Von 273 Personen sind nur 14 weiblich.
Unmenschliche Arbeitsbedingungen und Steuertricks
Dass Funktionärsebenen vielen Menschen wie Klubs vorkommen müssen, deren Türen ihnen für immer verschlossen bleiben werden, ist weder ein Alleinstellungsmerkmal von Fußballunternehmen noch die alleinige Schuld von Clemens Tönnies. Aber er ist Teil des Problems. Er, und die Art und Weise, wie die anderen Mitglieder solch exklusiver Klubs sein Verhalten sanktionieren: Nämlich gar nicht. Loyalität ist ihnen wichtiger als die Bekämpfung diskriminierender Strukturen (oder bloß ein Zeichen gegen Rassismus). Nach außen hingegen wird kräftig getreten, wenn mit Dietmar Hopp einer der eigenen Männer angegriffen wird. Aus ihrer Sicht sogar verständlich: Je weniger Menschen man in den Klub lässt, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst irgendwann zur Tür gebeten wird. Patriarchalische Strukturen sind auch in der Bundesliga noch verbreitet.
Auch die Bedingungen der Arbeiter*innen in Tönnies’ Schlachtbetrieb haben jahrelang nur wenige Menschen im Fußball interessiert. Beschäftigte werden dort unter Anderem mittels Werkverträgen und Subunternehmen kleingehalten und in mangelhaften Sammelunterkünften untergebracht. Solche Arbeitsbedingungen sind ein Zeichen von Skrupellosigkeit; in Zeiten von Corona exponenziert sich die Gefahr für die Gesundheit der Mitarbeiter*innen und ihrer Angehörigen. Behörden warfen dem Unternehmen außerdem in ungewohnter Deutlichkeit mangelnde Kooperation bei der Aufklärung vor. Ende offen.
Unterschiedliche Medien haben übrigens schon vor Corona immer wieder über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen bei Tönnies berichtet. Doch damit endet seine Liste nicht. 2017 verhängte das Bundeskartellamt gegen zwei Tochtergesellschaften des Großunternehmers Bußgelder in Höhe von fast 130 Millionen Euro. Wie die FAZ damals berichtete, hat die Gruppe jedoch nie einen Cent bezahlt. Stattdessen nutzte Tönnies eine Lücke im Kartellrecht, verschmolz die betroffenen Tochterunternehmen mit anderen Untergesellschaften und entging so den Zahlungen. Der Trick machte als „Wurstlücke” noch weiter Schule. Auch im Cum-Ex-Skandal fiel später Tönnies’ Name. Recherchen von Zeit und Spiegel zufolge soll er in komplizierte Geschäfte investiert haben, welche den Beteiligten Steuerrückerstattungen des Staates einbringen sollten, die ihnen nicht zu zustehen – zu Lasten aller anderen Steuerzahler*innen. Als das Ganze aufflog, wollte der Milliardär von nichts gewusst haben. Kritik erntete er darüber hinaus für seine Nähe zu Gazprom und Wladimir Putin.
Ach ja: Die Tatsache, dass Tönnies’ Betrieb jährlich Millionen, Tiere tötet – 2019 sollen es 16,7 Millionen Schweine gewesen sein –, fließt selten in Beurteilungen ein. Aber das ist in Deutschland ja leider auch kein Skandal.
Tönnies ist nicht nur ein Problem des FC Schalke
Und jetzt? Vielleicht wird Clemens Tönnies seinen Kopf wieder aus der Schlinge ziehen können. Stark ramponiert, aber immerhin. In Sachen Werkverträge machte er bereits eine Kehrtwende und wolle sie nun weitgehend abschaffen. Bisher hatte er sich mit Nachdruck für dieses System ausgesprochen. Überhaupt gibt er sich geläutert, verspricht Änderungen für die gesamte Fleischindustrie.
Der Corona-Ausbruch im eigenen Betrieb hat Tönnies' Reputation auch in der Bundesliga Kratzer beschert. Beim FC Schalke droht ihm ohnehin Ärger. Viele Fans stemmen sich schon seit Jahren gegen Pläne der Ausgliederung der Fußballabteilung aus dem eingetragenen Verein. Der Aufsichtsratsvorsitzende aber flirtete angesichts hoher Schulden zuletzt in aller Öffentlichkeit mit dieser Idee. Mit Spruchbändern wie „Leitbild leben – statt Werte schlachten" protestieren Schalke-Fans derzeit auch gegen andere Missstände: Die Idee eines „Härtefallantrags” zur Einbehaltung von Ticketgeldern sorgte allerorts für Spott, und nicht nur Schalke-Mitglieder empfanden die Entlassung von 24 Fahrer*innen der Jugendakademie, darunter viele Minijobber*innen, angesichts der Millionengehälter der Fußball-Profis als herzlos. Um Kosten zu sparen, soll ein externer Dienstleister den Fahrdienst übernehmen.
Am Samstag demonstrierten in Gelsenkirchen rund 1.000 Fans gegen das derzeitige Selbstverständnis ihres Vereins. Neben den Ultras Gelsenkirchen stellen sich auch andere Fanorganisationen deutlich gegen die aktuelle Vereinsführung und fordern tiefgreifende strukturelle Änderungen.
Das Ganze mag wie ein exklusives Problem des FC Schalke scheinen – ist es aber nicht. Dass ein Funktionär wie Clemens Tönnies seit Jahrzehnten eine Machtposition im Fußball bekleidet, nervt einfach nur noch und sagt etwas über die gesamte Branche aus. Der Profifußball in Deutschland hat in den letzten Wochen ja immer wieder brav betont, dass er sich erden und verändern möchte. Menschen mit den Wertvorstellungen eines Clemens Tönnies vor die Tür zu setzen, wäre da mal ein gutes Zeichen.