Das letzte Gefecht um den Fußball
Es war während einer der letzten Begegnungen der vergangenen Saison als mir bewusst wurde, wie weit ich mich vom Profifußball entfernt hatte. Zum ersten Mal seit Monaten fuhr ich wieder an einem Samstag die bekannten 180 km nach Dortmund, um ein Heimspiel des BVB zusammen mit Freunden vor dem Fernseher zu verfolgen. Bezeichnend: Ich kann aus dem Stegreif nicht einmal sagen, welches Heimspiel es war. Könnte das gegen Hertha gewesen sein. Haben wir überhaupt in der Rückrunde gegen die gespielt? Egal.
Als ich also mit ein paar Freunden im Wohnzimmer saß, vielleicht 10
Minuten Fußweg vom Westfalenstadion entfernt, realisierte ich, dass
es sich ähnlich angefühlt hätte, das Spiel im Stadion zu
verfolgen. Die gleichen Freunde, die gleichen Gespräche und Späße,
ungefähr der gleiche Tagesablauf. Nur eben ohne Stadionbesuch.
Die
Corona-Selbsterfahrungsberichte von Fußballfans drehen sich oft um
die Sehnsucht nach der Fankurve, den Gesängen und Fahnen, um das
Brennen unter den Fingernägeln, wenn man das Spiel seiner Mannschaft
auf dem Fernseher verfolgen muss. Ich muss gestehen: Ob nun im
Oktober 2020 oder Oktober 2021 wieder mit Zuschauern gespielt wird –
es ist mir mittlerweile egal.
Warum eigentlich? Zugegeben, ich bin kein Fan von diesem Entschleunigungs- und Selbstfindungskram, den man allenthalben zu hören bekommt, wenn es um die Einschnitte geht, welche die Pandemie diktiert. Allerdings hat in Bezug auf den Fußball die notgedrungene Distanz zum Spiel doch seine Spuren hinterlassen. Vorher hetzte man sich in einem Hamsterrad aus Partien über Partien. Mittwochs Champions League, sonntags Bundesliga, dienstags DFB-Pokal. An den anderen Tagen andere Mannschaften angucken, Fußball findet von Montag bis Sonntag irgendwo statt.
Klar: Kommerzialisierung, Super League, FIFA-Betrüger, Dietmar Hopp, Red Bull – all dieser ganze Mist, den gab es schon vorher und man wurde nicht müde, Woche für Woche in den Stadien und auf anderen Plattformen gegen diese Auswüchse des Fußballs vorzugehen.
Aber durch diesen Medusa-ähnlichen Kampf (ein Kopf wird abgeschlagen und zehn neue wachsen nach) verschob sich auch immer weiter der Punkt, an dem man sich ehrlicherweise hätte eingestehen müssen, dass das einzige konsequente Handeln darin besteht, dem Profifußball den Rücken zu kehren.
Erst Corona sorgte dafür, dass man eine Zwangspause hatte und für einen Moment einmal aus diesem Hamsterrad aussteigen musste.
Nun bekam man die hässliche Fratze des Fußballs weiterhin ungefiltert mit: die Chose um die Wiederaufnahme des Spielbetriebs; der Versuch, den Fans zu verklickern, man würde ja „für die Menschen“ spielen und nicht aus rein wirtschaftlichen Gründen; die Lippenbekenntnisse um ein zukünftiges Maß bei Transfer-, Gehalts-, und Spielerberatersummen, die ungefähr 3 Monate Bestand hatten; und, um auch ein Wort zum Sport zu verlieren, die üblichen Meisterschafts-Abonnenten in nahezu allen europäischen Ligen – „faire“ Verteilung der TV-Gelder sei Dank.
Was aber (quasi als Gegengewicht) fehlte, war der Stadionbesuch, die
Fankurven und alles was damit zu tun hat. Man hatte nichts mehr, um
sich diese ganzen Auswüchse des Fußballs irgendwie schönzureden.
Gleichzeitig wuchs die Erkenntnis: Es war auch schon vorher verlogen,
sich diesen Fußball schönzureden, nur weil man Teil des Ganzen sein
konnte – eben durch die Anwesenheit in den Stadien.
Die aktuellen Bestrebungen der Vereine sind völlig klar: Man möchte unbedingt wieder Fans zuzulassen. Das hat natürlich einen ganz simplen Grund: Es geht um Vermarktung. Die Einschaltquoten der Sportschau beispielsweise sanken im Laufe des Wiederanpfiffs der Saison auf knapp 3 Millionen Zuschauer – im Vergleich zu 5 Millionen Zuschauer vor der Spielpause. Das, was seit Jahren auf Fahnen und Bannern in den Fankurven der Bundesrepublik stand, was auf Tribünen und Demonstrationen skandiert wurde, kann sich nun der letzte Fußballfunktionär auch einfach schwarz auf weiß auf einer Statistik ansehen: Der Fußball lebt durch seine Fans. Das Spiel ist nicht interessant ohne laute, bunte Stadien.
Hier endet der einfache Teil eines solchen Textes. Die
Bestandsaufnahme liegt für jeden auf der Hand, der den Fußball seit
Jahren aktiv verfolgt. Was ist also die Schlussfolgerung? Welche
Konsequenzen muss man ziehen? Initiativen wie „unser Fußball“
sind sicherlich ein Ansatz. Aber – und es mag sicher ältere Fans
geben, die diesen Punkt schon zigmal erreicht haben – ich für
meinen Teil glaube, dass solche Vorhaben nur die allerletzten
Versuche sein können, den Fußball wieder in halbwegs vernünftige
Bahnen zu lenken. Das Glaubwürdigkeitsproblem des Profisports, das
sich durch die Pandemie so schonungslos gezeigt hat, wird man
vermutlich nie wieder so eindeutig zu sehen bekommen. Solange man
volle, laute Stadien hat, können Verbände, Vereine und Funktionäre
immer das tun, was sie immer getan haben: kritische Fans mundtot
machen, Anhänger gegeneinander ausspielen („gute“, „richtige“
vs. „sogenannte“, „vermeintliche“ Fans) und vor allem
Probleme geflissentlich ignorieren, denn der Ball rollt ja weiter und
die Stadien sind weiterhin voll.
Wie sehr dieses Business aber am Ende des Tages doch davon abhängig ist, dass wir Eintrittsgelder zahlen, Stimmung und Emotionen in eine Begegnung bringen und Sky-Abos finanzieren, genau das bekommen wir gerade mehr denn je zu sehen. Diejenigen, die den Fußball als riesengroße Gelddruckmaschine erhalten möchten, die werden alles dafür geben, diese Erkenntnis so schnell wie irgend möglich wieder aus unserem Gedächtnis zu löschen. Es liegt an allen Fans, das zu verhindern. Es wird die letzte Möglichkeit sein.