Kommentar zu den Ereignissen am Dortmunder Hauptbahnhof
Eigentlich neigte sich der Tag schon dem Ende zu, als große Teile der Dortmunder Fanszene nach dem Derby mit dem Entlastungszug gegen 20 Uhr wieder am Dortmunder Hauptbahnhof ankamen. Doch die Rechnung hatte man offenbar ohne die Polizei gemacht.
Um es vorweg zu nehmen: eine detaillierte und minutiöse Beschreibung der Ereignisse, die sich am Hauptbahnhof zugetragen haben, wird man hier nicht finden. Dies ist alleine schon dem Umstand geschuldet, dass hierzu eine juristische Aufarbeitung erfolgen muss und erfolgen wird. Eine Schilderung, die sich ausschließlich auf Aussagen von beteiligten Augenzeugen stützt, lautet jedoch ungefähr so:
Nach Ankunft am Hauptbahnhof bewegte sich eine Gruppe von mehreren hundert Fans durch den Tunnel in Richtung Ausgang. Dabei fiel schnell ein blau-weiß gekleideter Schalker Anhänger auf, der sich provokativ durch die Menge bewegte. Diverse Wortgefechte und eine Spuckattacke später rief die Situation die anwesende geschlossene Einheit auf den Plan, welche unvermittelt und rabiat durch die Fanmassen auf die vermeintlichen Übeltäter stürzte. Bereits bei diesem ersten Einschreiten schildern Augenzeugen, dass es zu Faustschlägen auf Kopfhöhe gekommen sei. In der Folge kam es zu Solidarisierungen durch die restlichen Dortmunder Fans und einem Pfefferspray- und Schlagstockeinsatz im vollbesetzten Hauptbahnhof. Innerhalb dieser Gemengelage wurde schließlich ein schwatzgelb.de-Redakteur während eines Telefonats (!) mit einem Anwalt der Dortmunder Fanhilfe durch einen Schlagstock so schwer im Gesicht verletzt, dass ein stationärer Krankenhausaufenthalt und eine Operation noch am nächsten Tag notwendig waren. Inzwischen berichten auch weitere Fans von Verletzungen durch den Schlagstockeinsatz der Polizei. Die Aufarbeitung dauert noch an.
So viel zu den Ereignissen.
In Anbetracht der Tatsache, dass ein Kollege aus unserer Redaktion solch schwere Verletzungen davongetragen hat, möchte man mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Wut diesen Text eigentlich nur mit der an die geschlossene Einheit gerichteten Frage „Was ist denn eigentlich nicht richtig mit euch?“ schließen. Allerdings bedürfen noch ganz andere Fragen der dringenden Klärung:
Wie kann es sein, dass die Fantrennung am gesamten Spieltag in einer derart überzogenen Art und Weise durchgeführt wurde, dass in Gelsenkirchen sogar Sichtschutzwände aufgebaut worden sind, die Polizei es dann allerdings nicht für nötig hält, bei Rückkehr der Dortmunder Fanszene in die eigene Stadt einen Schalker Anhänger daran zu hindern, provozierend durch die Massen zu spazieren?
Mit welchem Verständnis von Verhältnismäßigkeit prügelt man sich anschließend durch eine große Menge Dortmunder Fans, statt schlicht eine Einzelperson aus der Gemengelage zu entfernen?
Wie rechtfertigt man, dass unmittelbar zu Faust- und Schlagstockschlägen auf Kopfhöhe angesetzt wird? Welches Ziel soll durch solche lebensgefährlichen Praktiken verfolgt werden?
Wie rechtfertigt man, dass am Boden liegende Fans buchstäblich aus dem Haupteingang hinausgetreten werden, wie auf folgenden Videoaufnahme zu sehen ist?
Achja: da es ohnehin lediglich eine Frage der Zeit ist, bis von einigen Kommentatoren das obligatorische „Naja, die werden schon etwas ausgefressen haben!“ aufgeworfen wird: selbst wenn es im Vorfeld zu einem Fehlverhalten gekommen sein sollte, ist die Polizei an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden. Dieser gebietet, das mildeste zur Verfügung stehende Mittel zu wählen, um einer etwaigen Gefahr effektiv Rechnung zu tragen. Unbeteiligten Personen einen Schlagstock durch das Gesicht zu ziehen, Mitarbeiter des Fanprojekts zu attackieren, oder einzelne Leute am Boden mit Stahlkappenschuhen wie Vieh zu treten gehört unter allen denkbaren Umständen nicht dazu.
Bereits am Samstagabend hat sich die Fanhilfe Dortmund der Sache angenommen und mit den Nachforschungen begonnen. Hierzu möchten wir jeden, der von den Geschehnissen etwas mitbekommen hat, oder gar Bild- und Videomaterial angefertigt hat, eindringlich bitten, diese Informationen mit der Fanhilfe unter info@fanhilfe-dortmund.de zu teilen.
Die Erfolgsaussichten dieser juristischen Aufarbeitung sind jedoch - vorsichtig formuliert - gering zu bemessen. Die Bundespolizei hat in einer Pressemitteilung zwar bereitwillig die Herausgabe der selbst angefertigten Videoaufzeichnungen an die Justiz angekündigt. Jedoch ist bereits jetzt die Befürchtung gegeben, dass Videoaufnahmen, welche einzelne Beamten belasten können, nur unvollständig weitergegeben werden, wie in der Vergangenheit geschehen. Durch den Umstand, dass die meisten Einsatzkräfte ohnehin vermummt und behelmt waren, bedarf es vermutlich nicht einmal der „Regiearbeit“, um einer Identifizierung zu entgehen.
Hier zeigt sich einmal mehr, wie sehr unser Rechtstaat rund um das Thema Polizeigewalt versagt. Die erst kürzlich veröffentlichten Zwischenergebnisse eines Forschungsprojektes der Ruhr-Universität Bochum zum Thema „Rechtswidrige Polizeigewalt“ zeigen in diesem Zusammenhang erschreckende Ergebnisse. Nur eine Zahl: in 86 % der berichteten Vorfälle wurde im Ergebnis kein Strafverfahren durchgeführt. Die Gründe hierfür sind natürlich mannigfaltig und lassen sich nicht in wenigen Sätzen erläutern. Klar ist allerdings, dass die Möglichkeiten bei der Identifizierung von Polizisten im Einsatz und das Fehlen einer unabhängigen Ermittlungsstelle ganz zentrale Probleme sind. Diese Umstände wurden in der Vergangenheit gar vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert, die Kennzeichnungspflicht für Polizisten in NRW hingegen wurde 2017 nach nur einem Jahr wieder durch Stimmen der CDU, FDP und AfD (!) abgeschafft.
Auf der anderen Seite wird deutlich, wie wichtig die Arbeit von Institutionen wie der Fanhilfe in solchen Situationen ist. Trotz der Ohnmacht, die die Betroffenen von Polizeigewalt empfinden müssen, ist das Herstellen einer entsprechenden Öffentlichkeit ein wichtiges (oder gar: das einzige?) Instrument. Man mag sich kaum vorstellen, wie sehr die Sache unter den Tisch gekehrt werden würde, wenn sich nicht in den sozialen Netzwerken Zusammenschlüsse wie die Fanhilfe, oder das Dortmunder Fanprojekt, aber auch Privatpersonen öffentlich zu den Vorfällen äußern würden. Gerade auch die Verbreitung von Videoaufnahmen können hierbei einen öffentlichen Druck erzeugen, der unter Umständen zumindest in Ermittlungsverfahren resultiert.
Schließen möchte ich mit einer sehr persönlichen Bemerkung: Stellt euch einen Moment lang vor, dass ihr als absolut Unbeteiligte durch einen Polizeieinsatz massiv verletzt werdet und im Anschluss nicht einmal realistisch davon ausgehen könnt, dass der Täter ernsthaft zur Verantwortung gezogen wird. Im besten Fall sieht man die betroffene Hundertschaft ja beim nächsten Auswärtsspiel wieder. Ich könnte kotzen.