Spielbericht Profis

Jetzt muss die Schale her! Oder: 13 Tore besser als der HSV

11.11.2019, 11:11 Uhr von:  SSC
Jetzt muss die Schale her! Oder: 13 Tore besser als der HSV

Wieder einmal sprangen Dortmunder Löwen zum Auswärtssieg beim FC Bayern und landeten nach demütigenden 90 Minuten als Bettvorleger. War für den einen oder anderen nach der jüngsten Miniserie die Meisterschaft schon wieder in Nähe gerückt, blieb nach der 4:0 Klatsche nur eine Gewissheit: 3:26 Tore in den vergangenen sechs Bundesligapartien in München, 13 Tore besser als der HSV!

Was war das doch für ein packendes Spiel: Männerfußball wurde angekündigt, echte Kerle gefordert, eine Wiederholung vergangener Peinlichkeiten nahezu ausgeschlossen. Die Chance in München zu gewinnen sei so groß wie selten, wussten die Auguren: Bayern angeschlagen und nach dem Trainerwechsel in der Champions League wenig überzeugend, Dortmund nach drei Siegen in Folge inklusive eines spektakulären Heimsiegs gegen Inter Mailand auf der Formkurve klar nach oben unterwegs. Dass Borussia in diesen drei Spielen kaum mehr als zwei gute Halbzeiten auf den Rasen gebracht hatte, geriet ebenso schnell in Vergessenheit wie die BVB-Bilanz in München der vergangenen Jahre: stets angetreten mit großer Klappe vor einem vermeintlich leichten Spiel gegen neben sich stehende Bayern, folgte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine kräftige Watschn. Während sich die einen unter der Woche also am Begriff Männerfußball aufhängen wollten, ahnten die anderen schon, was in München bevorstehen würde: der jährliche Besuch bei der Domina, die erst einmal die Eierschrauben anlegen und aus großen Männern kleine Fiffis machen würde.

BVB Block gegen Körperscanner

Das Spiel stand auf beiden Seiten im Licht der Trainerfrage. Lucien Favre und Niko Kovac waren zuletzt wohl vor allem durch die Schwäche des jeweiligen Gegners im Amt gehalten worden. Nach einer Klatsche in Frankfurt und einem Dortmunder Sieg gegen bis dahin ungeschlagene Wolfsburger hatte es Niko Kovac dann erwischt. Ein eher peinliches Intermezzo mit Arsene Wenger und eine ziemlich peinliche Copy&Paste-Pressemitteilung hielten das Thema beim FC Bayern am Köcheln, mit Hansi Flick übernahm ein unscheinbarer Interimscoach die Arbeit. Auch beim BVB brodelt es seit Wochen, der Club wirkt paralysiert. Der Kommentar auf unserer Seite, warum Favre gehen müsse, sorgte für große Zustimmung, aber auch große Ablehnung. Die Ablehnung speiste sich nicht zuletzt aus der Befürchtung, keinen adäquaten Nachfolger finden zu können, einen Nachfolger weniger gut leiden zu können oder mit einem derartigen Manöver die noch immer halbwegs ordentliche Tabellensituation zu gefährden - Begeisterung ob der Darbietungen gehörte eher nicht zum Potpourri der Argumente. Auch war unumwundene Rückendeckung der Geschäftsführung für Trainer Favre in der Zwischenzeit nicht zu vernehmen, was dessen Situation trotz der jüngsten Erfolge nicht nennenswert stabilisierte. Fahren auf Sicht, bloß keinen Fehler machen – die Überschrift, die seit einiger Zeit über allem zu stehen scheint.

So war die Ausgangslage vor dem Spiel, das in immer dümmlicherer Marktschreiermanier mit immer neuen Floskeln überschrieben wird (etwa: Deutscher Classico, Deutscher Clasico, #derklassiker, Mutter aller Topspiele, ...), relativ klar umrissen: zwei Vereine, bei denen Anspruch und Realität zuletzt deutlich auseinandergingen, mussten unbedingt ein Remis oder besser einen Sieg holen, um sich dem Rest der Liga nicht als leichte Beute zu präsentieren oder bis auf die Knochen zu blamieren. Als Nebenbedingung würden die Borussen ohne Stürmer gegen Bayern ohne Innenverteidiger agieren, die ersatzgeschwächten Bayern ihre Reservebank nur mit sieben Spielern (BVB: neun) bestücken können.

Auf eine Choreografie der Südkurve, die mit viel Details den Doublesieg 1969 feierte, folgte eine Gedenkminute zum zehnten Todestag Robert Enkes. Leider Gottes versagen wir in Deutschland mittlerweile zuverlässig dabei, wenigstens ein paar Sekunden den Rüssel zu halten, sodass fast umgehend nach Verlesung der Gedenkworte unspektakuläres Klatschen einen Moment der würdigen Stille zunichtemachte.

Leon Goretzka gegen Mario Götze

Das Spiel begann munter, da beide Mannschaften sich nicht versteckten und ordentlich Biss zeigten. Bereits in der ersten Minute zwang Robert Lewandowski nach perfektem Anspiel von David Alabas Roman Bürki zu einer Heldentat vor dem eigenen Strafraum, der BVB hielt ordentlich dagegen und erarbeitete sich eine optische Überlegenheit. Viel Zählbares kam auf beiden Seiten allerdings nicht zustande, da die Abwehrkräfte ihre Aufgabe gut lösten. Eine Ausnahme bildete Jadon Sancho, der nach 36 Minuten Arbeitsverweigerung vollkommen zurecht ausgewechselt wurde: seine erste und einzige nennenswerte Aktion war ein Festlaufen in seinen Gegenspielern auf Höhe der Strafraumgrenze in der 14. Minute.

Nach 16 Minuten nahm das unvermeidliche Desaster dann seinen Lauf: Axel Witsel hatte den Ball zunächst gegen Thomas Müller verteidigt, konnte den Ball aber nicht aus der Gefahrenzone bringen. Der flipperte durch den Strafraum, Benjamin Pavard kam an das Leder und bediente Robert Lewandowski perfekt: das 1:0 per Kopf aus fünf Meter Entfernung, vorbei am chancenlosen Bürki und für Lewandowski gleich der erste von mehreren Bayernrekorden an diesem Abend. Dass Lewandowski so frei stand wie sonst nur ein Schalker am Abend in der Disko (Geruch), war das Verdienst Achraf Hakimis – hatte er nach vorne rund zwei bis drei Ideen während des Spiels, zeigte er nach hinten vor allem aberwitzige Stunts aus der Stummfilmära.

Nico Schulz mit Problemen

Der BVB zeigte sich in der Folge deutlich eingeschüchtert und zog sich merklich zurück. Stets auf Sicherheit bedacht, verwalteten die Schwarzgelben den Rückstand wie sonst eine eigene Führung. Eine Bewegung in die gegnerische Hälfte blieb fortan Mangelware, die Bayern wurden trotz ihrer bunt zusammen gewürfelten Abwehr nicht einmal attackiert. Situation wie von einem anderen Stern: Borussia liegt mit einem Tor hinten. Bayern schiebt sich in der eigenen Defensive, bis zu 15 Meter vom nächsten Dortmunder Gegenspieler entfernt, den Ball zu. Wäre es den Bayern nicht zu blöd gewesen und hätten sie nicht auf mehr Tore drängen wollen, hätte das Spiel gut und gerne auch einfach so weiterlaufen können.

Obwohl Favre sein berüchtigt kompaktes Spiel zur Risikominimierung aufgeplant hatte, kamen die Bayern zu aufreizend vielen Torchancen. Mats Hummels, bester Dortmunder Feldspieler, wurde nach Möglichkeit umspielt und mit hohen Bällen auf die rechte Abwehrseite hantiert. Das Muster blieb das immer Gleiche: hoher Ball in Richtung Fünfmeterraum, wo Müller oder Lewandowski den Ball artistisch aus der Luft pflückten, ihre Dortmunder Gegenspieler ins Toraus marschierten und Müller oder Lewandowski glatt eine Sekunde Zeit hatten, sich direkt vor dem Tor die beste Option auszusuchen. Dass in dieser Phase nicht zwei oder drei weitere Treffer fielen, war nicht der besonderen Kompaktheit oder Defensivstärke zu verdanken, sondern vor allem Bürki und einer gehörigen Portion Glück.

Mats Hummels klärt gegen Serge Gnabry

Die einzige nennenswerte Situation auf Dortmunder Seite entstand tatsächlich durch einen Freistoß. Raphael Guerreiro, für den grausam lustlosen Sancho ins Spiel gekommen, brachte den Freistoß scharf von rechts auf den langen Pfosten – weil Witsel den Ball aber nicht erreichte, landete der Ball im Toraus und ging es mit einer dramatischen Bilanz von 8:0 Torschüssen und 63:37 Prozent Ballbesitz in die Halbzeit. Das große Highlight des BVB bestand bis dato tatsächlich darin, den Gegentorschnitt der Vorjahre (4,4 in den vorangegangenen fünf Bundesligaspielen in München) gesenkt zu haben.

Man musste kein Prophet sein, um zu ahnen, was in Hälfte zwei passieren würde. Borussia würde zurückhaltend spielen, in der Hoffnung, nicht abgeschossen zu werden. Die Bayern würden ihrerseits Lunte gerochen haben, den Sack schnell zu machen und dem BVB bei Gelegenheit so richtig einen verpassen wollen. Tatsächlich zappelte der Ball bereits in der 46. Minute wieder im Netz, zum dritten Mal in diesem Spiel: wurde ein Treffer der Bayern in der ersten Hälfte wegen Abseits nicht gegeben, durfte diesmal der dümmliche Videoschiedsrichter eingreifen und nach gefühlten zwei Minuten anzeigen: ätsch, das Tor war doch korrekt! Vorangegangen war Serge Gnabrys Treffer ein weiterer Stellungsfehler Hakimis, ihm nachfolgten Wechselgesänge zwischen Südkurve und Gästeblock zum wenig beliebten DFB.

Borussia nun endgültig wie das Kaninchen vor der Schlange, die Hoffnung auf einen Auswärtsdreier war jäh beendet worden. Das Team stellte sich noch tiefer in die eigene Hälfte, um sich nicht vollends abschlachten zu lassen, hatte neben den Gegentreffern jedoch mit einigen Handycaps zu kämpfen. Eines davon war Julian Brandt, der wie Falschgeld durch die Räume schlich und nicht eine gute Szene erwischte. Kein Nachsetzen nach Ballverlusten, körperlose Zweikämpfe, stets langsamer als seine Gegenspieler und ohne Anbindung an das Spiel – es bleibt ein Rätsel, wie sich der in Leverkusen so brillierende Brandt binnen weniger Wochen zu einem Geist entwickeln konnte. Wieder hatte der BVB Glück, dass Gnabry nach guter Vorarbeit Kingsley Comans (52.) und Lewandowksi nach mühelosem Austricksen Manuel Akanjis (59.) jeweils knapp rechts am Kasten vorzielten.

Marco Reus gegen David Alaba

Nach einer Stunde reagierte Favre dann endlich: für Julian Weigl und Mario Götze, die wenigstens etwas Bemühen gezeigt hatten und längst nicht die schlechtesten Borussen an diesem Abend waren, kamen Marco Reus und Paco Alcacer ins Spiel. Reus hatte sichtlich mit Beschweren zu kämpfen und fügte sich nahtlos in das Getrabe der Vorderleute ein, wenn es um defensive Aufgaben und weiche Zweikampfführung ging. Alcacer kam in der 69. Minute zum ersten und einzigen Dortmunder Torschuss des Tages: Hakimi, der für kuriose defensive Einlagen mit einem leidenschaftlichen Konter entlohnte, bediente von rechts. Javi Martinez berührte den Ball im Fünfmeterraum mit der Hacke, konnte Alcacer aber nicht vom Ball fernhalten – mit ausgestrecktem Bein erreichte der den Ball ebenfalls mit der Hacke, schob ihn aber haarscharf links am Kasten vorbei.

Wie schallend die Ohrfeige des FC Bayern zu diesem Zeitpunkt bereits ausfiel, zeigte ein Blick auf die Wettquoten. Der BVB, der nach Aufwärtstrend und besserer Tabellenposition gegen einen durchschnittlich aufgelegten FC Bayern ohne etatmäßigen Innenverteidiger spielte, wurde etwa bei Tipico als hoffnungsloser Fall eingestuft. Obwohl noch immer 20 Minuten zu spielen waren, bot der Wettanbieter auf einen Sieg der Bayern die Quote 1,01 und für einen Sieg des BVB die Quote 80.

Tatsächlich folgte, was folgen musste: In der 75. Minuten hob Müller den Ball zentral vor dem Strafraum vor das Tor, wo Lewandowski viel Freiraum mühelos zum 3:0 nutzen konnte. In der 79. Minute brachte Ivan Perisic den Ball scharf entlang der Torlinie in den Strafraum, wo Hummels beim Versuch des Klärens ein weiteres Eigentor verursachte. Die Bayern sangen sich mit ihrem Klassiker „Wer wird deutscher Meister? BVB Borussia“ und „Oh wie ist das schön“, das tatsächlich durchs gesamte Stadion schwappte, in Laune, während Perisic eine Reihe guter Torgelegenheiten vergab.

Das Team vor dem Gästeblock

Die Borussen auf dem Rasen schlichen nach Spielende ähnlich motiviert in Richtung Gästeblock, wie sie das Spiel bestritten hatten. Dort wurde geflucht und der Mannschaft sehr deutlich kundgetan, dass sie sich nach diesem Alibifußball auch direkt in die Kabine verziehen könne. Passende Analysen für dieses Debakel waren dann auch schnell zur Hand. Während Müller über das immer wieder herrliche Gefühl feixte, großmäulige Borussen mit Larifari-Mentalität in München vom Platz zu schießen und sich durch Sprücheklopferei der Sorte Männerfußball zusätzlich motivieren zu lassen, bemängelte Hummels das körperlose und selbstgefällige Spiel seiner Mannschaft, die vor allem härter zu sich selbst sein müsse, wenn sie denn wirklich etwas reißen wollte. Inwiefern sich das von einem Mangel an Mentalität unterscheiden soll, den Hummels bis dato immer zurückgewiesen hatte, blieb hierbei eine akademische Fragestellung.

Hansi Flick und Lucien Favre

Vielleicht hätten sich die Spieler zur Vorbereitung am Nachmittag in Unterföhring einfinden sollen, wo der heimische FC in der Landesliga Bayern Südost auf den Spitzenreiter vom SV Erlbach getroffen war. Dessen 11er, Johannes Maier, war während der zweiten Halbzeit mit einer Tätlichkeit davongekommen und hatte dafür nur einen erhobenen Zeigefinger gesehen, wohl aber einen dreiwöchigen Urlaub gebucht und deshalb während (!) des Schlusspfiffs zu einer aus etwa vier Metern eingesprungen Blutgrätsche angesetzt. Mehr Körpereinsatz in einer Sekunde Landesliga als in 90 Minuten Männerfußball-Bundesliga – auch das ist der BVB der Saison 2019/20.

Statistik

FCB: Neuer - Pavard, Martinez, Alaba, Davies - Kimmich, Goretzka (72. Thiago) - Gnabry (70. Coutinho), Müller, Coman (75. Perisic) – Lewandowski

Wechsel: Coutinho für Gnabry (70.), Thiago für Goretzka (72.), Perisic für Coman (75.)

BVB: Bürki - Hakimi, Hummels, Akanji, Schulz - Witsel, Weigl - Sancho, Brandt, Hazard - Götze

Wechsel: Guerreiro für Sancho (36.), Reus für Götze, Alcacer für Weigl (beide 61.)

Tore: 1:0 Lewandowski (17.), 2:0 Gnabry (47.), 3:0 Lewandowski (76.), 4:0 Hummels (80., Eigentor)

Gelbe Karten: Coman, Kimmich - Reus

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