Die letzte Geschichte
Die Bundesligasaison 2017/18 wird bald vergessen sein. Nur eine Geschichte könnte dies ändern: Der Abstieg des HSV. Obwohl sich alle inklusive des Autors wünschen, dass er absteigt, wäre es wohl besser, wenn er drin bleibt.
Das Dortmunder Fußballmuseum des DFB hat noch viel Luft nach oben, doch eines gelingt ihm ganz wunderbar: Eltern zum Erzählen zu bringen. Das wahre Highlight des Museums ist es, die Älteren zu beobachten, wie sie bei irgendwelchen Fotos stehenbleiben und von früher erzählen. Von Meisterschaften und Abstiegen, von Fußballschlachten und ihren Helden, von Erfolgen und vom Scheitern. Die Kinder schauen ihre Eltern meistens mit großen Augen an und wollen all dies selbst erleben. Fußball war immer einer der größten Geschichtenerzähler, ein Anwärter auf den Literaturnobelpreis.
Dass der wichtigste Kulturpreis aufgrund von Missbrauchsvorwürfen vorerst ausgesetzt wird, ist für den Fußball kein Verlust, denn er steckt in einer tiefen schöpferischen Krise und wäre ohnehin kein Kandidat für die Auszeichnung. Schon nach 33 Spieltagen steht so gut wie fest: Die Fußballsaison 2017/2018 war ein Desaster. Und ich rede nicht vom BVB, der sich in dieser Hinsicht lediglich als wahres Kind der Bundesliga erweist. Nein, ich meine die gesamte Liga. Sicher, es gibt immer wieder einzelne Spiele, an die man sich lange erinnern wird. Das erste Derby, das ich seltsamer Weise in guter Erinnerung habe, weil mir die erste Hälfte so viel überraschende Freude bereitet hat, dass ich die zweite Hälfte komplett ausblenden kann, gehört sicher dazu. Doch wird es für die Erzählung von diesem Spiel völlig egal sein, in welchem Jahr es stattfand. Der Bundesliga als Ganzes jedoch gehen die Geschichten aus.
Denn welche Geschichte sollten Eltern in zwanzig, dreißig Jahren ihrem Kind von der Saison 2017/2018 erzählen? Sicher, wir haben am vergangenen Wochenende Jubelbilder in Dortmund – zum Glück hatte sich der BVB auf seine Feier zum Erreichen der Champions League gut vorbereitet, sodass er den Mainzern für deren Feier zur nicht erwarteten Rettung vor dem Abstieg das Bier stellen konnte – und in Gelsenkirchen gesehen. Allerdings ist Mainz ein Klub, der – dies ist keineswegs abwertend gemeint – eher nur regional wahrgenommen wird, und Schalke hat auch schon Vizemeisterschaften hingelegt, die – aus ganz neutraler Perspektive – etwas mehr Erzählstoff lieferten („In Hamburg wird noch gespielt“). Wir werden beide Erfolge schon bald vergessen haben.
Der fehlende Meisterschaftskampf macht die Bundesliga belanglos
Überhaupt: Der „Gewinn“ der Vizemeisterschaft ist nicht gerade eine Erzählung, die zum Träumen anregt (Ausnahmen bestätigen die Regel – „In Hamburg wird noch gespielt“). Doch der Kampf um die Meisterschaft ist seit Jahren Geschichte. Das letzte halbwegs ernstzunehmende Meisterschaftsrennen in Deutschland fand vor sechs Jahren statt (und die seitdem vom BVB gesammelten Vizemeisterschaften habe ich mir nirgends notiert). Damit fehlt der Liga ein wichtiger Handlungsstrang, der den Fußball auszeichnet. Verglichen mit den großen europäischen Ligen ist diese Entwicklung einmalig. Selbst in Italien, wo Juventus mit ähnlichem Erfolg wie die Bayern Titel sammelt, gibt es noch immer ernstzunehmende Rivalen. Ich war selbst im Stadion, als vor einer guten Woche der SSC Neapel mit einer 0:3 Niederlage bei der Fiorentina seine Chancen auf die Meisterschaft vergeigte. Einige Spieler weinten, andere ließen die Köpfe hängen und man sah ihnen an, dass gerade ihr Traum geplatzt war. Niemand feierte die Vizemeisterschaft. Wenn zukünftig die Rede auf den SSC Neapel kommen wird, werde ich die Geschichte dieses Spiels erzählen. Wie der Schiedsrichter früh einen Elfmeter für Florenz gab, bevor der Videoschiedsrichter auf Freistoß und rote Karte für Neapel korrigierte. Wie Neapel es nie schaffte, sein gefürchtetes Kurzpassspiel aufzuziehen, weil Florenz sie konsequent in Manndeckung nahm. Und wie Giovanni Simeone einen Hattrick für Florenz erzielte, nachdem ich vorher – auf der Basis einer handvoll Spiele, die ich im TV gesehen hatte – ganz selbstbewusst kundgetan hatte, dass ich ihn für einen guten Stürmer hielt. Wir Fußballexperten leben von diesen Zufällen.
Es hat der Bundesliga sicher auch nicht gutgetan, dass die Zahl der Vereine, die bundesweites Interesse erregen, kontinuierlich zurückgegangen ist. Vereine wie Mainz, Augsburg oder die jetzt wieder zweitklassigen Ingolstädter leisten mit kleinen Etats eine gute Arbeit und haben es sich ohne Frage verdient, auf der großen Bühne zu stehen. Vielleicht kommen dieses Jahr die Kieler hinzu, die immerhin auch schon mal eine deutsche Meisterschaft gewonnen haben, aber die ist noch länger her als der letzte Titel der Blauen, weshalb auch hier der Geschichtenhaushalt eher begrenzt ist. Manche setzen die Hoffnung auf Investoren, doch Wolfsburg, Hoffenheim und Leipzig haben bislang nicht nachgewiesen, dass sie Erzählungen produzieren können, die die Massen bewegen. Eine fußballerische Bereicherung waren sie bislang ebenfalls nur in ausgewählten Jahrgängen.
Der Abstieg des HSV - Die letzte Geschichte der Bundesliga
Die (vorerst?) letzte Geschichte, die noch nicht erzählt ist, ist der Abstieg des HSV. Als ich in den späten 1980er-Jahren begann – ich erzähle die Geschichte in den letzten Wochen häufiger –, mich etwas intensiver mit dem Fußball zu beschäftigen, gab es vier Vereine, die noch nie abgestiegen waren: Der 1. FC Köln, der 1. FC Kaiserslautern, die Frankfurter Eintracht und der Hamburger Sportverein. Die ersten drei Vereine sind mittlerweile Fahrstuhlmannschaften, wobei die roten Teufel erst noch beweisen müssen, dass ihr Fahrstuhl auch noch den Weg nach oben kennt. Bleibt der HSV. Dessen Fans haben es gerade besonders schwer. Nicht nur, weil sie absteigen könnten, was für jeden Fußballfan der Horror ist. Sondern weil sich alle übrigen Fans den Abstieg des HSV wünschen und es eher selten verbergen können. Mir geht es ganz ähnlich, dabei kenne ich keinen einzigen HSV-Fan, der mir nicht sympathisch ist und der mir nicht außerordentlich leidtäte, wenn der HSV absteigen sollte. Bei der Frage nach der Ursache für die allgemeine Missgunst wird meist angeführt, dass der HSV den Abstieg verdient habe. Wegen jahrelanger Misswirtschaft, wegen eines Investors, der scheinbar Geld ohne Ende zubuttert („HSV Plus“), wegen (vermeintlicher?) Großkotzigkeit. Ich persönlich habe den Eindruck, dass der HSV ein außergewöhnliches Talent hat, unsympathische Spieler zu verpflichten. Aber letztlich ließe sich Vergleichbares zu vielen Vereinen sagen. Auf der Gerechtigkeitsskala dürfte der VfL Wolfsburg jedenfalls noch einiges hinter dem HSV liegen.
Der wahre Grund aber ist wohl die Sehnsucht nach einer Geschichte. Das Einzige, was diese Saison noch besonders machen könnte, wäre der Abstieg des HSV. Deswegen hoffen nicht nur Paulianer und Bremer auf den Abstieg der Rothosen, sondern auch die meisten anderen Fußballfans. Damit wir auch in zwanzig Jahren was erzählen können, was uns an die Saison erinnert. Aber ein Abstieg wäre gleichbedeutend mit dem Ende dieser Geschichte, sie lässt sich nicht wiederholen. Die Saison 2018/2019 wäre schon jetzt ein Desaster. Bayern wird Meister und wer absteigt, wird wohl die wenigsten bewegen. Für alle von uns, die auf den Abstieg des HSV hoffen, wäre es im Grunde das Beste, er bliebe drin. Damit wir auch nächstes Jahr hoffen können, auf Kosten all der HSV-Fans. Für diese besteht freilich keine Hoffnung: Abstieg ja oder nein ist für sie im Grunde nur die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Disclaimer: Die steigen nicht ab.
8. Mai 2018, Tag der Befreiung. #NoNazisDO