Anschlag auf den BVB: Die Hilflosigkeit von Betroffenen, Verein und Fans
Genau ein Jahr liegt der Anschlag auf BVB-Spieler und -Mitarbeitende zurück. Gerade läuft der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Die Aussagen vor Gericht legen nahe, dass einige Betroffene die Ereignisse noch nicht verarbeitet haben. Verein und Umfeld scheinen ratlos zu sein. Versuch einer Bestandsaufnahme.
Eins steht fest: Als der BVB-Mannschaftsbus am 11. April 2017 den Parkplatz des Mannschaftshotels L’Arrivée verlässt, müssen die meisten Insassen und Umstehenden einen großen Schutzengel haben. Drei Sprengsätze explodieren in unmittelbarer Nähe und Metallstifte schlagen in den Bus ein. Marc Bartra erleidet einen Speichenbruch, ein eskortierender Polizist ein Knalltrauma. Doch das sind lediglich die physischen Folgen des Anschlags.
Die langfristigen psychischen Auswirkungen auf die Betroffenen spielen in der öffentlichen Debatte ebenso wenig eine Rolle wie deren Aufarbeitung. Während auch der Verein und seine Offiziellen sich hierzu überraschend bedeckt halten, stehen viele Fans hilf- und ratlos daneben: Müssen wir nicht berücksichtigen, dass der Anschlag möglicherweise Auswirkungen auf die Leistungen unserer Mannschaft hat, und uns ihr gegenüber anders verhalten? Der Versuch einer Bestandsaufnahme.
„Ich versuche, es weg zu schieben“
„Der Anschlag hat mein Leben verändert“, sagte Roman Weidenfeller kürzlich vor dem Dortmunder Landgericht. Es gebe Mitspieler, die immer noch darunter leiden, er selbst nehme seitdem psychologische Hilfe in Anspruch. Auch Marcel Schmelzer zitierte die Süddeutsche Zeitung aus dem Gerichtssaal: „Ich versuche, es weg zu schieben. Aber es gibt immer wieder Momente, in denen man denkt, was für ein Glück wir hatten.“ Er erzählte von ernsthaften Schlafproblemen und dass er bei lauten Geräuschen immer noch zusammenzucke.
Diese Aussagen lassen erahnen, wie sehr die Ereignisse manche Betroffene weiterhin beschäftigen, dass Verarbeiten und Verdrängen auch ein Jahr später noch schwerfallen. Der Anschlag beeinflusst ihren Alltag und sorgt für Ängste in vermeintlich normalen Situationen, zum Beispiel beim Betreten eines Busses. Für Außenstehende ist das im ersten Moment schwierig nachzuvollziehen.
Vielleicht wird der Anschlag sie ein Leben lang begleiten
Der verletzte Polizeibeamte sagte aus, seit dem Anschlag unter einem chronischen Tinnitus zu leiden. Als er sieben Monate später erstmals wieder einen Bus begleitete, den der Tottenham Hotspurs, habe er gemerkt, „dass es nicht mehr geht“, wie die SZ berichtete. Seitdem ist er dienstunfähig. Der Fahrer des Mannschaftsbusses erzählte außerdem, dass er in Stresssituationen im Bus einen schnelleren Pulsanstieg spüre und schwitzige Hände bekomme. Und Matthias Ginter, der als Nationalspieler zwei Jahre zuvor auch die Anschläge in Paris miterlebt hatte, gab im November vergangenen Jahres ein bemerkenswertes Interview und antwortete auf die Frage, inwiefern ihn Terror verändert habe: „Die Erfahrungen haben mich nicht zu einem anderen Menschen gemacht, aber ich reagiere sensibler auf mein Umfeld. Wenn ein Lkw langsam angerollt kommt, merke ich, dass ich die Straßenseite wechsle. Ich war mit meiner Freundin im Stadion in Leverkusen, so um die 80. Minute herum nahm ein Mann Platz, der da vorher nicht saß, er hatte einen Rucksack dabei. Wir haben uns angesehen, und meine Freundin meinte: ‚Lass uns lieber reingehen.‘ In solchen Momenten wird man plötzlich vorsichtig.“
Der laufende Gerichtsprozess holt die Erinnerungen wieder hoch
Beispiele, die zeigen, dass ein solcher Anschlag einen Menschen noch lange über das eigentliche Ereignis hinaus, vielleicht sogar sein ganzes Leben lang physisch und psychisch beschäftigen kann. Und wenn Marcel Schmelzer sagt, dass er bei lauten Geräuschen zusammenzucke, Sven Bender zu Protokoll gibt, der Anschlag sei mit ein Grund für seinen Wechsel nach Leverkusen gewesen, und Matthias Ginter überlegt, ein Stadion aus Unsicherheit zu verlassen, dann dürfen wir sicher sein: Mit Betreten des Platzes sind die Probleme nicht abgestellt. Vielleicht verschärft die Atmosphäre von über 80.000 Menschen in einem Fußballstadion sie sogar.
Vermutlich haben die vergangenen Monate, in denen der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter läuft und die Spieler vor Gericht offen über die Ereignisse sprechen müssen, die Situation noch verschärft. „Jetzt wo der Prozess läuft, wirbelt es schon vieles wieder auf. An den Tagen danach ging es mir da auch nicht so gut, weil es wieder hochgekommen ist, obwohl es eigentlich bei mir schon sehr weit weg war“, sagte Torwarttrainer Teddy de Beer jüngst im Gespräch mit schwatzgelb.de. Einigen Spielern, mit denen er nach dem Prozesstag gesprochen habe, gehe es „natürlich“ ähnlich.
Doch wenn wir ehrlich sind: All dies fällt schnell unter den Tisch, wenn wir Fans von unserer Mannschaft Woche für Woche Erfolge erwarten und strenge Maßstäbe an ihre Leistungen anlegen.
Sollten wir Fans nicht gerade jetzt sensibler sein?
Stimmten die nicht mit den Erwartungen überein, wie schon häufiger in dieser Saison, war die Stimmung zuletzt meist gereizt. Die Mannschaft musste dann mit Pfiffen rechnen, wofür Spieler wie Roman Bürki das Publikum wiederum öffentlich kritisierten. Grundsätzlich ist das Westfalenstadion seltener ausverkauft – auch unabhängig von den Protesten gegen Montagsspiele – und weder auf der Südtribüne, noch im Rest des Stadions kommt derzeit so recht Stimmung auf. Doch sollten wir nicht gerade in einer Zeit, in der unterschiedliche Aussagen darauf hindeuten, dass mindestens Teile der Mannschaft neben der sportlichen Erwartungshaltung einen noch viel größeren Rucksack mit sich herumschleppen, sensibler sein, auf scharfe Unmutsbekundungen im Zweifel verzichten und sie erst recht unterstützen?
Die Krux ist: Von der Tribüne aus kann man nicht beurteilen, ob ein Spieler einen Fehlpass nun gespielt hat, weil er bloß unsauber gearbeitet hat, oder ob er aufgrund äußerer Einflüsse gerade gar nicht auf der Höhe sein kann. Und wenn Letzteres der Fall ist: Woher sollen wir wissen, was dem betroffenen Spieler nun am meisten hilft? Ist es aufmunternder Applaus? Oder soll man schweigend so tun, als hätte man den Fauxpas gar nicht bemerkt? Und da ist auch gleich die nächste Schwierigkeit: Hierauf wird es vermutlich keine allgemeingültige Antwort geben, da jeder Betroffene individuell mit einem solchen Problem umgeht. Und überhaupt weiß man nicht, für welchen Spieler auf dem Rasen der Anschlag noch ein Thema ist und wer die Ereignisse bis jetzt gut verarbeitet hat. Das ist selbstverständlich, schließlich ist der Umgang damit in erster Linie Sache der Betroffenen und ihrer Angehörigen.
Für Fußballprofis ist es eine große Hürde, Schwächen einzuräumen
Als Fan fühlt man sich in solchen Momenten rat- und hilflos. Den meisten wird es nicht an Verständnis oder der Bereitschaft zur Unterstützung mangeln. Es ist vielmehr das Unwissen, wie im Zweifel mit einer solchen Situation umzugehen ist: Können wir etwas tun? Und wenn ja, was?
Die pragmatischste Lösung ist angesichts der Gepflogenheiten des Fußballgeschäfts gleichzeitig die schwierigste: Dass die betroffenen Spieler offen darüber sprechen. Der Marktwert eines Fußballers, der psychische Belastungen einräumt, wird nicht gerade in die Höhe schnellen. Manche werden es als Charakterschwäche auslegen, interessierte Vereine könnten sich abwenden. Überbezahlung von Profifußballern hin oder her, aber wer mit diesem Geschäft seine Brötchen verdient und vielleicht Mitverantwortung für seine Familie trägt, wird sich einen solchen Schritt zu Recht zwei Mal überlegen. Nicht zu vergessen, dass extreme Ereignisse wie der Anschlag bei manchen Spielern, die mit Dauer-Verletzungen kämpfen, sich um die nächste Vertragsverlängerung sorgen oder private Probleme haben, noch on top kommen.
Die Aussagen von Roman Weidenfeller und Co. verdienen großen Respekt
Bestes Beispiel ist Marc Bartra, der beim Anschlag schwer verletzt wurde. Vor Gericht sagte er Ende Januar ungeschönt aus: „Ich habe den Anschlag bis heute nicht verarbeitet und leide nach wie vor. Ich hatte Todesangst und Angst, meine Familie niemals wiederzusehen.“ Kurz darauf warf er den berichtenden Medien, die ihn weitgehend ähnlich zitiert hatten, vor, seine Aussagen gänzlich falsch wiedergegeben zu haben. Der Anschlag habe ihn gar gestärkt:
Marc Bartra, der eine denkbar beschissene Phase durchleben musste (und vielleicht noch muss) und zum Zeitpunkt der Aussage kurz vor dem Wechsel zu Betis Sevilla stand, ist der Letzte, dem man daraus einen Strick drehen möchte. Dennoch sagt dies über die schwierige Vereinbarkeit von Profifußball und der Aufarbeitung eines einschneidenden Erlebnisses wie dem Anschlag viel aus. Das Geschäft mag zwar (saisonal) etwas für Stehaufmännchen und gallische Dörfer wie Island oder Leicester City übrighaben, in die großen Heldengeschichten, die der Motor der Vermarktung sind, passt das Eingestehen von mentaler Belastung jedoch kaum. Etwas Hoffnung macht die jüngst von Per Mertesacker im Spiegel angestoßene Debatte, die den ohnehin schon großen Druck auf Fußballspieler in den Fokus rückt: „Irgendwann realisierst du, dass alles eine Belastung ist, körperlich und mental. Dass es null mehr um Spaß geht, sondern dass du abliefern musst, ohne Wenn und Aber. Selbst wenn du verletzt bist.“ Viele andere Akteure pflichteten ihm bei, zum Beispiel Robert Bauer, Thomas Hitzelsperger, Christian Heidel, Markus Babbel oder DFB-Psychologe Hans-Dieter Hermann.
Nicht nur vor diesem Hintergrund verdienen die Aussagen Roman Weidenfellers, Matthias Ginters oder selbstverständlich des verletzten Polizisten, dessen berufliche Zukunft ja ebenfalls davon betroffen ist, viel Respekt.
Der BVB muss vorangehen – doch hat er überhaupt eine Strategie?
Und dennoch: Eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Anschlag und seinen (individuellen) Folgen findet abseits der Gerichtsverhandlung nicht statt. Und auch dort bloß aus verfahrenstechnischen Gründen, nicht zum Zweck der persönlichen Aufarbeitung.
Wenn die Betroffenen das Bedürfnis hätten, hieran etwas zu ändern und öffentlich Verständnis für Probleme zu wecken, dann dürfte dies nicht Sache Einzelner bleiben. Der Verein müsste vorangehen und mit einer vernünftigen Kommunikationsstrategie ein Bewusstsein für dieses Thema schaffen. Der BVB ist schwieriger anzugreifen als einzelne Angestellte, und seine Flucht nach vorn würde betroffenen Personen Windschatten geben, um bei Bedarf auch außerhalb des Gerichtssaals über den Anschlag zu sprechen. Doch es wirkt nicht so, als habe der Verein einen Plan.
Der BVB hat von Anfang an Fehler gemacht. Im Streit mit und um Thomas Tuchel wurde der Umgang mit dem Anschlag zur Gretchenfrage. Eine ganze Zeit lang ging es mehr um persönliche Befindlichkeiten und Deutungshoheit als um die Bedürfnisse der Betroffenen (zu denen Thomas Tuchel ebenfalls zählt). Die Schuld hierfür tragen vermutlich beide Seiten. Die BVB-Offiziellen müssen sich jedoch vorwerfen lassen, dem nicht wenigstens Einhalt geboten zu haben. Die möglichen Schwierigkeiten für die Betroffenen rückten so lange in den Hintergrund.
Verein lässt Zweifel wachsen, ob er intern die richtigen Maßnahmen ergriffen hat
Darüber hinaus gab es wenig öffentliche Aussagen zum Thema. Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke erklärte auf der Mitgliederversammlung Ende vergangenen Jahres, der Anschlag habe den Verein erschüttert, und räumte vor zwei Monaten in einem FAZ-Interview-Interview ein, die Langzeitwirkungen unterschätzt und die Folgen bis dato nicht thematisiert zu haben. Mehr kam nicht, auch nicht aus der Kommunikationsabteilung des BVB. Keine öffentliche Eigeninitiative, keine Transparenz, kein Gang in die Offensive, um es fortan besser zu machen und die Spieler zu schützen. Michael Zorc ergänzte jüngst nach dem 3:0-Sieg über den VfB Stuttgart noch, man müsse das „irgendwie verarbeiten“. Gemessen an der Tragweite des Ereignisses ist das bemerkenswert wenig.
Dabei ist Interventionen in solchen Fällen so wichtig. Dr. Michele Ufer, Sportpsychologe aus Herdecke, erzählte uns vergangene Woche im Interview, dass nicht nur das Schaffen von Angeboten wichtig sei, sondern auch für die nötige Akzeptanz gesorgt werden müsse, damit Betroffene sich überhaupt trauten, sie in Krisensituationen wahrzunehmen. Der BVB beteuert, professionelle Hilfe zu haben. Doch wenn schon nach außen kein Konzept zu erkennen ist, kann man bezweifeln, ob die internen Maßnahmen des Vereins wirklich Hand und Fuß haben und langfristig angelegt sind.
Der allergrößte Teil der BVB-Fans würde den Mut offener Worte zu schätzen wissen
Bleibt schließlich die Frage, was wir Fans tun können? Ganz selbstverständlich sind unsere Ansprüche an die Mannshaft nach den großartigen Leistungen der vergangenen Jahre gestiegen. Und im Verhältnis zwischen Team und Tribüne ist es auch legitim, diese Erwartungen zu artikulieren. Gleichzeitig stehen wir jedoch auch in der Pflicht, sie regelmäßig zu hinterfragen und an besondere und erst recht extreme Situationen wie den Anschlag anzupassen – und das nicht nur in den Folgewochen, sondern langfristig.
Natürlich rätseln wir, warum wir auf dem Platz im Moment häufig eine solch verunsicherte Mannschaft sehen, und freuen uns deshalb über jeden Erklärungsansatz. Erst recht, wenn er Dinge betrifft, die (noch) im Verborgenen liegen. Aber selbstverständlich können und möchten wir (potenziell) betroffene Spieler und Mitarbeitende des BVB nicht zwingen, offenherzig über ernstzunehmende Probleme zu sprechen, nur um uns die Fußballwelt etwas verständlicher zu machen.
Doch wir möchten euch, den Betroffenen, an dieser Stelle Mut machen: Wenn es jemanden aus Mannschaft oder Betreuerstab gibt, für den oder die es ein Fortschritt wäre, offen über die Schwierigkeiten des Anschlags zu sprechen, dann hören wir nicht nur aufmerksam zu. Wenn ihr das Gefühl habt, wir legen falsche Maßstäbe an eure Leistungen an, weil die Folgen des Anschlags einen geordneten sportlichen Ablauf (noch) nicht zulassen, lassen wir uns selbstverständlich eines Besseren belehren. Ja, es wird ein paar Spinner geben, die dies nicht zu schätzen wüssten und vermutlich dagegen pöbeln würden. Aber der allergrößte Teil der BVB-Fans würde diesen großen Mut honorieren und in kritischen Situationen verständnisvoller reagieren. Wir sind die letzten, die ihr fürchten müsst.