Zwischen FIFA-Fest und Frankreich-Farce
Die WM in Russland ist Geschichte, mit Frankreich ein neuer Weltmeister gekürt. Unser Autor Boris war vor Ort in Moskau und hat sich selbst ein Bild gemacht - von Land, Leuten und N'Golo Kante. Ein Reisebericht.
Das Ende kam schnell, vorhersehbar und auf den Tag genau – und doch war die Weltmeisterschaft 2018 auf einmal vorbei. Eine vierwöchige Blase, die gefühlt alles beinhaltete, platzte dann doch plötzlicher als gedacht. Zahllose Diskussionen, Analysen und Zermürbungen rund um das riesige Gastgeberland. Fast tägliche Aneinanderreihungen von teils mittelklassigen Partien im drei Stunden-Takt, gepaart mit Supermarktfilialleitern als humoristischen Ankerpunkt. Doch ob Iran gegen Marokko, Ägypten gegen Russland oder Panama gegen Tunesien – selbstredend, dass so gut wie keine Möglichkeit ausgelassen wurde, ausnahmslos jede Partie aufzusaugen und doch irgendwie zu gucken.
Sportliche Attraktivität beiseite, war das Turnier in seiner
gesamten Komplexität für einen in Deutschland geborenen
Fußballsucht-Patienten mit russischstämmiger Familiengeschichte und in
Moskau lebenden Großeltern eine komische Angelegenheit. Während Palina
Rojinski in strömendem Regen durch den Gorki-Park läuft und wenig
ertragreiche „Fakten“ und Eindrücke lieferte, fragte man sich: Ist es
überhaupt möglich, dieses Land, diese Leute, diese Kultur und diese
Geschichte im Schleudergang zu erleben, zu erfahren und zu verstehen?
Man bemühte sich ja schließlich. Markus Lanz überraschte positiv, Udo
Lielischkies hinterließ eher verdutzt und zwischen die Chemie von Tom
Bartels und Palina in der Vorberichterstattung passte kein Blatt Papier –
eher eine zwanzig-teilige Matrjoschka.
Seit dem 5. Lebensjahr
mindestens ein Mal im Jahr bei den Großeltern zu Besuch in Moskau und
auf Datcha zu sein, lieferte kontinuierlich ein mehrwöchiges Fenster mit
Einblick in ein Russland, das sich streckt und reckt. Das versucht,
macht und tut. Ein Land, das will und schon vieles hat – aber
stellenweise noch beeindruckende Beweise hervorzaubert, dass die
Gegenwart und Zukunft die allseits im Bewusstsein verankerte Geschichte
noch nicht überholt haben. Wem Mütterchen Russland schon vorher bekannt
war und der oder diejenige während des Turniers zum „gefährlichen
Nachbarn“ reiste, erlebte von Anfang an eine paradoxe
Allgegenwärtigkeit. In Moskau angekommen, waberten ständige Gedanken der
Ungläubigkeit zwischen Stirn und Hinterkopf – nicht überall, aber über
fast allem schwebte der mal mehr oder mal weniger transparente
Deckmantel der großen Weltbühne Fußball.
Die halbstündige Strecke im Aeroexpress vom Terminal zum Bahnhof Belorusskaya bringt einen ins Epizentrum der einmonatigen Parallelwelt - FIFA, Fußball, Faninvasion. Der Zug ist ein Mix aus Fan-IDs, Koffern und verschiedensten Sprachen. Es ist der 20. Juni, die Gruppenphase des Turniers ist in vollem Gange und die Hauptstadt täglicher Mittelpunkt des Spektakels - und das Aushängeschild des mit Abstand größten Landes der Welt präsentierte sich herausgeputzt wie noch nie. Von Obdachlosen, Betrunkenen oder Unruhestiftern keine Spur; von den Straßen sollte man nicht, hätte man aber trotz der riesigen Menschenmassen gepflegt speisen können. Nur sehr optimistische und mit viel Zeit im Gepäck angereiste Besucher greifen auf das Auto, Bus oder das (Yandex) Taxi zurück – der fast zu perfekt organisierte Nahverkehr lässt die Deutsche Bahn im Vergleich ziemlich alt aussehen und das kulturell beinahe schon integrierte Phänomen „Stau“ links liegen.
Bei einer Fahrt mit der Moskauer Metro schlägt man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Fortbewegung in der 16-Millionen-Metropole verläuft reibungslos, und steht diese auch einer klassischen Sightseeing-Tour oberhalb der Erdoberfläche in ziemlich wenig nach. Mit dem Unterschied, dass man bei einer einstündigen Busrundfahrt die ersten 40 Minuten schon mal bewegungslos im Verkehr stecken bleiben kann. 190 unterirdische Haltestellen umfasst das Spinnennetz unterhalb des Hauptstadtmolochs, fast jede einzelne davon gleicht einem Kunstwerk, die Züge fahren alle 60 Sekunden ab. Steigt man aus, stehen eine Hand voll Volunteers, hauptsächlich englischsprachige Studenten, an jeder Ecke und haben scheinbar nur ein Lebensziel: Helfen! Helfen! Helfen!
Dass Russland auf seiner Agenda dem Image-Aspekt die allerhöchste Priorität zugesprochen hat, spiegelt sich allen voran beim Thema „Personal“ wider. Egal wo man ist, egal in welche Richtung man sich dreht - Sicherheitskräfte und Polizisten pflastern gefühlt jeden Quadratmeter an öffentlichen Plätzen und Knotenpunkten. Auf dem Weg vom Stadion zur Metro sorgt ein 200 Mann starker Spalier, bestehend aus Mitgliedern der „Rosgvardija“ und vergleichbar mit der deutschen Hundertschaft, für den wohl grimmigsten Heimweg aller Zeiten – unaufdringlich, aber präsent und bestimmt ist hier das Motto. Die freundlichen Mitarbeiter in den verschiedensten konsumorientierten Einrichtungen mit stark verbesserten Englischkenntnissen und deutlich verlängerten Geduldsfäden setzen der eigenen Verwunderung endgültig die Krone auf.
Es fällt manchmal nicht leicht bei all dem Drumherum nicht zu vergessen, dass der Mittelpunkt des größten Sportereignisses auf dem Erdball immer und immer noch auf dem Platz liegt. Spielstätten in der Hauptstadt waren dabei die brandneue Arena von Spartak Moskau und das altehrwürdige, vor kurzem aber auch komplett auf links gedrehte Luzhniki – letzteres Schauplatz eines ganz „besonderen“ persönlichen Erlebnisses.
Tickets für eine Partie der Weltmeisterschaft zu bekommen kann sich als schwieriges Unterfangen erweisen. In Moskau im besten Fall viel zu teuer und mit Glück für ein halbwegs attraktives Spiel – selbst in der eher unwichtigen (#ZSMMN) Gruppenphase. Dementsprechend groß war die Freude: Frankreich gegen Dänemark, gute Plätze, hervorragendes Wetter. Was fünf Dänen einen Tag zuvor auf einer Bootsrundfahrt über die Moskwa versprachen – „it will be a spectacular game!“ – erwies sich als eine leicht schiefe Einschätzung. Exakt drei Dinge konnten dem Nichtangriffspakt und dem einzigen torlosen Spiel des ganzen Turniers positiv abgewonnen werden: Thomas Delaney, N’Golo Kante und der hermetisch eingepackte, aber doch ganz leckere und leicht überteuerte Hot Dog. Die dargebotene Farce des späteren Weltmeisters wurde folgerichtig von den 78.000 Zuschauern ab Minute 60 mit Pfiffen quittiert – die außergewöhnliche Architektur und Akustik der Arena half dabei auf eindrucksvolle Art und Weise. Schade? Ja. Und doch hätte der persönlich zu realisierende Aufwand im Vorfeld schlimmer sein können.
Wer als Ausländer eine Fan-ID besitzt, kann visumfrei einreisen. Hat man keine und bekommt Karten auf den letzten Drücker, könnte es stressig werden. Denkt man. Drei Stunden vor Anpfiff betritt man eines von insgesamt drei Fan-ID-Zentren in Moskau und fühlt sich wie im durchorganisierten Fanhimmel. 10 Minuten dauert das komplette Prozedere: Antrag ausfüllen, Foto machen, Antrag einreichen und auf das vor Ort laminierte Dokument warten. Die Volunteers stehen auf einer Empore und versuchen sich als internationale Marktschreier, für all die Namen die sie niemals richtig aussprechen werden aber so enthusiastisch ausrufen, dass sie sie nie wieder vergessen werden. Trotzdem bekommt hier jeder seinen Freifahrtschein, um nicht unnötig von den örtlichen Behörden angequatscht zu werden, in absoluter Rekordzeit.
Letzteres steht dabei wohl exemplarisch für das große Ganze. Manche Fans verbrachten die kompletten vier Wochen in einem Land, das sie vorher im Zweifelsfall nur aus den Nachrichten kannten. Und doch ist es stark zu bezweifeln, dass ihnen ein Blick hinter die große FIFA – und WM-Blase gelungen ist. Das Land verwandelte sich eher für einen Monat in eine tadellos organisierte, makellos vorbereitete und bis ins Detail durchgeplante Präsentation, um der ganzen Welt zu zeigen – wir sind nicht so wie ihr alle denkt.
Ob es die nach Gianni Infantino „beste WM aller Zeiten“ war, vermag man nicht zu beurteilen. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es jedoch die letzte „normale“ Weltmeisterschaft, so wie wir sie kennen. Die Aussicht darauf, das nächste Turnier beim Public Viewing mit Glühwein in der Hand zu verbringen, lässt, Stand jetzt, wenig Vorfreude aufkommen. Und trotz aller und teils unverständlicher Kritik am sportlichen Niveau dieses Turniers, bleibt festzuhalten: Dass dieses Ereignis maßgeblich zur Völkerverständigung beigetragen hat, ist unbestritten. Wenn Mexikaner und Peruaner sich mit völlig fremden Dänen und Australiern in den Armen liegen, kann das nicht falsch sein. Wenn Kolumbianer und Tunesier sich mit Russen darüber streiten, wer denn jetzt wem einen ausgeben und die Pelmeni mit reichlich Bier bezahlen darf, kann das nicht falsch sein. Unwahrscheinlich, dass diese Menschen sich jemals wiedersehen werden, ist es auf jeden Fall. Schön zu sehen jedoch trotzdem, wie dieses Turnier Land und Besuchern als vierwöchiger Intensivkurs im Kennenlernen diente. Noch schöner wäre es, wenn sie wiederkommen wollen - nur dann war dieses Ereignis auch aus nicht sportlicher Sicht ein voller Erfolg.