...Prof. Dr. Thomas Feltes und Dr. Alexandra Schröder: Sechs Jahre nach Sevilla - Ein BVB-Fan vor dem Verfassungsgericht
Ein BVB-Fan, der nach dem gewalttätigen Polizeieinsatz 2010 in Sevilla verurteilt worden war, hatte nun Erfolg vor dem Bundesverfassungsgericht: Der daraus resultierende Eintrag ins deutsche Führungszeugnis muss neu geprüft werden. Das zuständige Gericht muss Beweise erheben, ob das spanische Schnellverfahren rechtsstaatlichen Mindeststandards genügte.
In Spanien sorgt Polizeigewalt im Rahmen internationaler Fußballspiele immer wieder für Schlagzeilen. Zuletzt mussten das die Fans des FC Bayern am eigenen Leib erfahren: In der Halbzeitpause des Spiels gegen Real Madrid stürmten Polizisten den Gästeblock des Bernabéu-Stadions und prügelten mit Schlagstöcken auf die FCB-Anhänger ein. Grund sollen zwei Banner gewesen sein. Der FC Bayern zeigte sich nach diesem Vorfall offiziell "entsetzt" und bat gar die Bundesregierung um Aufklärung des "maßlos übertriebenen Vorgehens".
Sevilla: Knüppelnde Polizisten und Schnellverurteilungen
Bei BVB-Fans haben die Szenen aus Madrid unschöne Erinnerungen geweckt: Vor mehr als sechs Jahren, im Dezember 2010, beim Europa-Leage-Auswärtsspiel in Sevilla wurden auch die mitgereisten Borussen Opfer eines unverhältnismäßigen Polizeieinsatzes. Bereits während des gemeinsamen Marsches zum Stadion zeigten sich die Polizisten überaus grob und pferchten die BVB-Fans immer wieder zusammen. Wer nicht spurte, wurde bedroht. Vor und im Stadion setzten die aggressiven Polizisten unvermittelt Schlagstöcke ein und verletzten damit mehrere Anhänger. Als die Situation entglitt, kam es zu weiteren Scharmützeln, in deren Folge Sitzschalen und andere Gegenstände auf die Einsatzkräfte flogen. Viele unbeteiligte Fans wurden Opfer von Knüppelhieben der Polizei. Während es so im Stadion hoch her ging, provozierten die Polizisten die noch vor dem Gästeeingang stehenden Fans, indem sie sie immer enger zusammen trieben.
Auch nach dem unglücklichen 2:2, welches das Ausscheiden aus der Europa League bedeutete, gingen die Eskapaden weiter: Gut 15 festgenommene BVB-Fans wurden einer brutalen Einzelbehandlung unterzogen. Wir haben damals über die Vorfälle berichtet. Die folgende Nacht mussten die Festgenommenen in Untersuchungshaft verbringen und wurden tags darauf gedrängt, Geständnisse zu unterschreiben. Dann ließe man sie direkt frei. Als Alternative stellte man ihnen ein normales Verfahren mit wochenlanger Untersuchungshaft in Aussicht. Da es außerdem hieß, eine Verurteilung infolge eines Geständnisses würde in Deutschland keinen Einfluss haben, ließen sich die festgenommenen und sichtlich gezeichneten Fans – Erfahrungsberichte über die erschreckenden Behandlungen im Gefängnis sind hier zu finden – darauf ein und wurden zu einer einjährigen Bewährungsstrafe verurteilt.
Weder deutsche Behörden noch Gericht zweifelten an Rechtmäßigkeit des Schnellverfahrens
Zurück in Deutschland erlebte einer der betroffenen Anhänger dann abermals ein böses Erwachen: Einige Monate später beantragte der 27-Jährige testweise ein Führungszeugnis und – siehe da! – die spanische Verurteilung wurde dort sehr wohl geführt. Der BVB-Fan beschwerte sich daraufhin beim Bundesamt für Justiz und beim Bundesjustizministerium. Die spanische Schnellverurteilung, führte er an, weise schließlich schwere rechtsstaatliche Mängel auf und dürfe nicht im Führungszeugnis auftauchen. Doch ohne Erfolg. Die Behörden lenkten nicht ein. Auch das Kammergericht Berlin zweifelte nicht an der Rechtmäßigkeit des spanischen Verfahrens und ging auf die Vorwürfe des 27-Jährigen nicht weiter ein.
Zu Unrecht, wie im Februar das Bundesverfassungsgericht urteilte: Das Berliner Gericht hätte das spanische Verfahren, das zur Schnellverurteilung des BVB-Fans geführt hat, prüfen müssen und nicht automatisch davon ausgehen dürfen, dass es rechtsstatlichen Mindeststandards genügte. Stattdessen hätte es Beweise erheben müssen, ob das Urteil in Spanien und damit der Eintrag im Führungszeugnis überhaupt rechtmäßig sind. Der Fall wird nun zur Neuverhandlung an das Berliner Kammergericht zurückgegeben.
Um zu ergründen, was hinter diesem Urteil der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts
steht, haben wir Prof. Dr. Thomas Feltes und Dr. Alexandra Schröder
befragt. Feltes hat den betroffenen BVB-Fan im Verfahren vertreten und
leitet den Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und
Polizeiwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Schröder ist
Rechtswissenschaftlerin und hat über die Vorfälle in Sevilla ihre
Dissertation geschrieben ("Polizeigewalt und Fußball im europäischen
Kontext – Das Beispiel Spanien").
schwatzgelb.de: Warum hat es dieser Fall bis vors Bundesverfassungsgericht geschafft?
Feltes/Schröder: Das Bundesverfassungsgericht kann erst entscheiden, wenn alle in Deutschland möglichen behördlichen und gerichtlichen Instanzenzüge durchlaufen wurden, also der fachgerichtliche Rechtsweg erschöpft ist. Weiterhin muss alles Zumutbare unternommen worden sein, die Rechtsverletzung anderweitig aus dem Weg zu räumen.
Dies ist im Fall des Beschwerdeführers geschehen. Versuche der Akteneinsicht in Spanien und die Einschaltung der spanischen Ombudsstelle scheiterten. Einwendungen gegen die Bundeszentralregistereintragung beim Bundesamt für Justiz (der registerführenden Stelle) blieben ebenso erfolglos wie die dagegen gerichteten Beschwerden. Auch das Bundesministerium der Justiz hat die Beschwerden zurückgewiesen und das Kammergericht Berlin unsere Anträge auf gerichtliche Entscheidung verworfen. Eine Rechtsbeschwerde wurde nicht zugelassen. Somit war für uns der Weg zum Bundesverfassungsgericht frei.
schwatzgelb.de: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts richtet sich gegen die Entscheidung des Kammergerichts Berlin, das zuerst über den Fall des 27-jährigen BVB-Fans geurteilt hat. Was hat man in der Hauptstadt aus Sicht der Verfassungshüterinnen und -hüter falsch gemacht?
Feltes/Schröder: Das Bundesverfassungsgericht hat unter Anderem bemängelt, dass „das Kammergericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt und das Vorbringen des Beschwerdeführers, das in das Bundeszentralregister eingetragene ausländische Strafurteil sei unter Verstoß gegen verfahrensrechtliche Mindeststandards zustande gekommen, nicht ausreichend geprüft hat“ (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 23. Januar 2017 - 2 BvR 2584/12 - Rn. 13). Dabei hat der Beschwerdeführer „in folgerichtiger, widerspruchsfreier, konkreter und detailreicher Schilderung dargelegt, inwiefern das Urteil von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht, und dafür auch Beweis angeboten“ (Rn. 22).
"Es hätte genügend Anhaltspunkte gegeben, das spanische Verfahren in Frage zu stellen"
Es hätte also genügend Anhaltspunkte gegeben, das spanische Verfahren in Frage zu stellen beziehungsweise den Urteilsinhalt nicht ungeprüft zu übernehmen, den Beschwerdeführer und andere Betroffene als Zeugen anzuhören und ihre Sicht der Dinge schildern zu lassen. Man kann grundsätzlich davon ausgehen, dass in einem Mitgliedstaat der EU rechtsstaatliche Prinzipien beziehungsweise Mindeststandards eingehalten werden; macht der Betroffene aber hinreichende Anhaltspunkte für einen solchen Verstoß geltend, kann die Vermutungswirkung beziehungsweise das „Vertrauen“, wie es das Bundesverfassungsgericht ausdrückt, erschüttert werden (vgl. Rn. 17).
Im Fall von Sevilla wurde von uns unter anderem geltend gemacht, dass dem Betroffene kein (ihn unterstützender) Anwalt oder Dolmetscher zur Seite gestellt wurde, und dass er unter Druck und Vorspiegelung falscher Tatsachen, ohne Wissen um den Tatvorwurf und Möglichkeit der Stellungnahme ein Geständnis unterschrieben hat. Rechtsstaatliche Verfahrensgrundsätze wie die Selbstbelastungsfreiheit (niemand muss sich selbst belasten) wurden hier grob missachtet.Laut Statistik sind weniger als 2 Prozent der eingelegten Verfassungsbeschwerden erfolgreich. Dass man unserer Beschwerde stattgegeben hat, ist also ein toller Erfolg.
schwatzgelb.de: Dem Kläger wurde nach eigenen Angaben in Sevilla versprochen, die einjährige spanische Bewährungsstrafe habe in Deutschland keine Folgen. Wie erklären Sie sich, dass sie doch ihren Weg in das Führungszeugnis des jungen Mannes fand?
Feltes/Schröder: Man muss hier zwischen der Eintragung im Bundeszentralregister und der Aufnahme ins Führungszeugnis unterscheiden.
Nach Ansicht der deutschen Behörden lagen die Voraussetzungen der §§ 54, 55 BZRG vor, weswegen eine Eintragung im Bundeszentralregister erfolgt ist.
Die Verurteilung wurde im Wege des Strafnachrichtenaustauschs zwischen Spanien und Deutschland übermittelt. Der Beschwerdeführer ist darüber hinaus Deutscher, und aufgrund des Sachverhalts hätte auch in Deutschland eine Strafe verhängt werden können. Hier stand unter anderem § 113 Abs. 1 StGB, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, im Raum. Der Beschwerdeführer soll laut Urteil beim Versuch, eine Polizeikontrolle zu überspringen, einen Polizisten angegriffen haben.
"Eintragungen im Bundeszentralregister bleiben je nach Schwere der Tat sehr lange bestehen"
Außerdem war das spanische Urteil rechtskräftig. Rechtskräftig bedeutet, dass die Entscheidung nicht mehr angefochten werden kann, da beispielsweise die Rechtsbehelfsfrist abgelaufen ist. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht aber klargestellt: „schon juristischen Laien ist es in der Regel nicht möglich, sich Kenntnis über die Rechtsbehelfsmöglichkeiten zu verschaffen […], selbst wenn es eine Rechtsbehelfsbelehrung gegeben hätte, wäre es dem Beschwerdeführer, der keine spanischen Sprachkenntnisse besitzt, nicht zumutbar gewesen, Rechtsmittel einzulegen“ (Rn. 25). Die Rechtskraft einer Entscheidung kann aber auch durch einen Rechtsmittelverzicht herbeigeführt werden. Wir bezweifeln jedoch sehr, dass ein solcher überhaupt stattgefunden hat, und wenn ja, dass die Fans tatsächlich über die Konsequenzen aufgeklärt wurden, also gegebenenfalls unbewusst einen solchen Verzicht erklärt haben.
Je nach Schwere der Tat (zum Beispiel > 90 Tagessätze und > drei Monate Freiheitsstrafe, vgl. § 32 Abs. 2 BZRG) wird die Strafe auch in das Führungszeugnis aufgenommen. Dies war bei dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Verurteilung zu zwölf Monaten Freiheitsstrafe der Fall, obgleich die Vollstreckung der Strafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.
schwatzgelb.de: Was kann ein Eintrag ins Bundeszentralregister für Folgen für Bürgerinnen und Bürger haben?
Feltes/Schröder: Eintragungen im Bundeszentralregister bleiben je nach Schwere der Tat sehr lange bestehen. Eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten bis zu einem Jahr wird beispielsweise erst nach zehn Jahren aus dem Bundeszentralregister getilgt (§ 46 BZRG). Voraussetzung hierfür ist aber auch, dass keine andere Verurteilung vorhanden ist oder dazukommt. Andere Eintragungen können diese Tilgungsfrist nach hinten verschieben. Das Ganze hat auch Auswirkungen auf die Aufnahme der Taten in das Führungszeugnis. Hier sind die Fristen jedoch kürzer. Ohne weitere Strafen ist das Führungszeugnis bestenfalls nach drei Jahren wieder „sauber“ (§ 34 BZRG).
"Das Gericht hat den Sachverhalt nicht verfünftig ermittelt"
Die Aufnahme in das Führungszeugnis belastet die Betroffenen sowohl beruflich, als auch privat. Ein Führungszeugnis muss zum Beispiel vorgezeigt werden, wenn man sich innerhalb des öffentlichen Dienstes bewirbt, mit Kindern und Jugendlichen arbeiten oder eine Gaststättenerlaubnis beantragen möchte. Wer sich beispielsweise als Lehrer bewirbt und ein Führungszeugnis mit dem Eintrag „Bedrohung der Staatsgewalt“ vorlegt, dürfte kaum Chancen auf den Job haben.
Auch hat die Eintragung im BZR Auswirkungen auf Reisen in die USA, da aufgrund der Vorstrafe Visa für die Einreise verweigert werden können (in dem Fall eines Betroffenen schon geschehen).
schwatzgelb.de: Laut Bundesverfassungsgericht ist der BVB-Anhänger in seinem
Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt worden. Was bedeutet
dieses Grundrecht grundsätzlich und darüber hinaus im vorliegenden Fall,
also im Kontext von Fußballspielen?
Feltes/Schröder: Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG besagt: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ Das bedeutet im Klartext: Für jedermann muss die Möglichkeit bestehen, rechtsverletzende Entscheidungen (tatsächlich und rechtlicher Art) durch Gerichte nachprüfen zu lassen. Hierzu gehört auch, dass das Gericht einen Sachverhalt vernünftig ermitteln muss, was im Fall des Beschwerdeführers nicht geschah
"Das dürfte eine sehr seltene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sein"
Und: Der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes lässt sich auf alle behördlichen Entscheidungen übertragen, die den Betroffenen belasten. Hier geht es nicht nur um die Frage der BZR-Eintragung, sondern der Gedanke kommt beispielsweise auch bei der Verhängung von Stadionverboten, Meldeauflagen oder Ähnlichem in Betracht. Vor der Verhängung belastender Maßnahmen im Rahmen von Fußballspielen sollten auch Behörden entsprechende Nachforschungen anstellen, ob der Betroffene nicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort war beziehungsweise ob es überhaupt ein relevantes Verhalten gab, das eine Meldeauflage oder Ähnliches rechtfertigt.
schwatzgelb.de: Das Bundesverfassungsgericht wirft dem Berliner Kammergericht
außerdem vor, gegen das Willkürverbot verstoßen zu haben. Das klingt
erstmal abstrakt. Was heißt das genau?
Feltes/Schröder: Das Willkürverbot ist eine Ausprägung des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG. Fehler in der Rechtsanwendung alleine reichen nicht aus, vielmehr muss sich der Schluss aufdrängen, „dass sie [die Rechtsanwendung] auf sachfremden Erwägungen beruht“ und nicht mehr verständlich ist (vgl. Rn. 27). In anderem Zusammenhang spricht das Bundesverfassungsgericht von einer „krassen Fehlentscheidung“ (BVerfGE 89, 1<14>). Man habe das Vorbringen des Beschwerdeführers nicht nachvollziehbar gewürdigt (vgl. Rn. 28 ff.). Auch das dürfte eine sehr seltene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sein.
schwatzgelb.de: Der Eintrag des 27-jährigen BVB-Fans ins
Bundeszentralregister muss nun neu geprüft werden. Dies heißt aber
nicht, dass er auch gelöscht werden muss?
Feltes/Schröder: Das Bundesverfassungsgericht hat den Beschluss des Kammergerichts Berlin aufgehoben und zur Neuverhandlung an dieses zurückverwiesen. Das Kammergericht Berlin muss sich also wieder mit der Sache befassen.
schwatzgelb.de: Hat das Urteil noch weitere Folgen für den Betroffenen?
Feltes/Schröder: Nein, der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat keine weiteren Folgen für den Betroffenen.
"Einem anderen Betroffenen war es aufgrund seiner Vorstrafe nicht möglich, visumfrei in die USA einzureisen"
Das spanische Urteil dagegen sehr wohl: Ein anderer Betroffener hat versucht, ein Visum für die USA zu erhalten. Aufgrund seiner Vorstrafe war es ihm nicht möglich, visumfrei in die USA einzureisen. Das Visum wurde ihm verwehrt und zwar mit der Aussage, dass er aufgrund seiner Sevilla-Vorstrafe sein Leben lang Probleme haben werde, in die USA einzureisen.
schwatzgelb.de: Das Kammergericht Berlin erklärte laut einem Bericht der taz,
bei Strafgerichten in der EU könne allgemein davon ausgegangen werden,
dass das jeweilige Verfahrensrecht rechtsstaatlichen Anforderungen
genüge. Auch das Bundesverfassungsgericht billigt dem Berliner Gericht
zu, dass es „grundsätzlich von der Richtigkeit des spanischen
Strafurteils ausgehen konnte“. Ist dieser Optimismus Ihrer Ansicht nach
berechtigt und handelt es sich bei den Ereignissen in Sevilla demzufolge
um seltene Einzelfälle?
Feltes/Schröder: Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass die Vermutungswirkung rechtsstaatlicher Verfahren in der EU erschüttert werden kann (vgl. Rn. 17), das heißt wenn man entsprechende Beweise vorbringt, müssen diese geprüft werden, und dann kann diese Vermutung hinfällig werden
"Über Probleme mit der Polizei in Spanien und Portugal wurde leider wenig berichtet"
Unsere damaligen Recherchen haben ergeben, dass es in Spanien und
Portugal schon öfter zu Problemen mit der Polizei gekommen ist (zuletzt
auch wieder beim CL-Spiel gegen Lissabon), aber nicht immer mit den
strafrechtlichen Konsequenzen wie in Sevilla. Leider wurde bislang nur
wenig darüber berichtet beziehungsweise öffentlich gemacht. Vielleicht
auch deshalb, da Betroffene befürchten, keine Chance zu haben
beziehungsweise dagegen nicht vorgehen zu können. Der Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts zeigt aber, dass es sich gelohnt hat,
weiterzumachen und sich nicht von den behördlichen und gerichtlichen
Ablehnungen abschrecken zu lassen.
schwatzgelb.de: Sind Fußballfans nicht auffällig oft Opfer solcher Rechtsmängel?
Wir haben herausgefunden, dass auch Fans anderer Bundesligisten schon Opfer von Polizeigewalt geworden sind. Vielleicht liegt es auch an dem – leider nicht gerade guten – Ansehen deutscher Fußballfans im Ausland
"Das Bundesverfassungsgericht hätte der Beschwerde sicherlich nicht stattgegeben, wenn es von der Richtigkeit des Vorgehens in Spanien überzeugt gewesen wäre"
Aber auch in Deutschland kommt es immer wieder zu Vorfällen, zum Beispiel werden Personalien von Fans eines ganzen Busses festgestellt, obwohl sich nur wenige aus diesem Bus daneben benommen haben. Solche Feststellungen können zu Speicherungen in den bekannten Dateien (Datei Gewalttäter Sport) führen.
schwatzgelb.de: Sagt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts denn etwas über das Verhalten der spanischen Polizei- und Justizbehörden 2010 aus?
Feltes/Schröder: Leider nein, es besagt „nur“, dass das Kammergericht Berlin die Sachlage vernünftigerweise hätte prüfen müssen. Auf der anderen Seite hätte das Bundesverfassungsgericht der Beschwerde sicherlich nicht stattgegeben, wenn es von der Richtigkeit des Vorgehens in Spanien überzeugt gewesen wäre. Unter anderem verweist das Bundesverfassungsgericht auf einen Aufsatz einer spanischen Professorin, die über die Kritik an spanischen Schnellverfahren schreibt.
schwatzgelb.de: Sie haben den BVB-Fan vertreten beziehungsweise unter anderem über die Ereignisse und Verfahren eine Dissertation geschrieben. Wie beurteilen Sie die Vorfälle in Sevilla nun rund sechs Jahre später?
Feltes/Schröder: Immerhin gibt es auch Positives zu berichten, beispielsweise dass es einem Fan mittlerweile möglich geworden ist, seinem Wunschberuf nachzugehen. Er hatte mit seiner Bewerbung allerdings so lange abgewartet, bis sein Führungszeugnis wieder unbelastet war.
schwatzgelb.de: Und gibt es noch weitere ausstehende, mit den Vorfällen in Sevilla zusammenhängende Verfahren?
Feltes/Schröder: Nein, da die ebenfalls in Spanien verhängten Geldstrafen gegen die BVB-Fans in Deutschland nicht vollstreckt wurden.
schwatzgelb.de: Um die Aufarbeitung der Ereignisse von Sevilla zu unterstützen, wurde am Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum in Kooperation mit BVB-Fanvertretern 2011 die „Task Force Sevilla“ gegründet. Was ist aus ihr geworden?
Feltes/Schröder: Nachdem wir Klage beim Kammergericht eingelegt hatten, wurde die „Task Force“ aufgelöst.
"Die Unterschrift war aus der Situation der Fans heraus nachvollziehbar und verständlich. Vermutlich hätte jeder von uns so gehandelt"
Zudem hatten sich spanische Juristen, die wir um Hilfe gebeten haben, zurückgezogen. Uns wurde signalisiert, dass man in Spanien auch als Anwalt Probleme bekommen kann, wenn man sich mit der Justiz anlegt.
schwatzgelb.de: Was raten Sie Menschen, die sich auf einmal mit einer ähnlichen Situation konfrontiert sehen und vor die Wahl gestellt werden, Geständnisse zu unterschreiben für Taten, die sie vielleicht nicht begangen haben, oder sich im Ausland einem unter Umständen langwierigen Verfahren mit unklarem Ausgang zu stellen?
Feltes/Schröder: Wer sich in so einer Situation befindet, wird sicherlich alles tun, dieser zu entkommen, und unter Druck passieren Dinge, die sich hinterher als nicht unbedingt richtig herausstellen. Die Unterschrift war aus der Situation der Fans heraus nachvollziehbar und verständlich. Vermutlich hätte jeder von uns so gehandelt. Man kann in solchen Fällen (das heißt bei einer Inhaftierung im Ausland) auf jeden Fall einen Telefonanruf einfordern und die deutsche Botschaft anrufen, die einem Hilfe gewähren und einen deutschen Rechtsanwalt vorbeischicken könnte.
Die Behörden des Gastlandes sind durch die Wiener Konvention verpflichtet, die deutsche Auslandsvertretung unverzüglich zu unterrichten, sofern der oder die Verhaftete dies verlangt. Leider kennt nicht jeder Polizeibeamte dieses internationale Abkommen. Der Konsularbeamte darf inhaftierte Landsleute im Gefängnis besuchen und mit ihnen korrespondieren. Er vergewissert sich, welche Gründe für die Verhaftung vorliegen, ob die Behandlung korrekt ist, und ob die Verpflegung und gesundheitliche Betreuung ausreichend sind. Auf Wunsch unterrichtet er Angehörige. Es gibt jedoch Hinweise, dass diese Hilfe im Ausland nicht immer (oder nicht immer schnell) funktioniert.
"In Sevilla wurden wichtige Grundsätze missachtet"
Zurück in Deutschland wäre es sinnvoll, die Vorfälle öffentlich zu machen und sich – wie der Beschwerdeführer – zu wehren. Je mehr Vorfälle bekannt werden, desto eher sind vielleicht auch deutsche Behörden bereit, dem Vorbringen der Betroffenen nachzugehen.
schwatzgelb.de: Hätte es im konkreten Fall denn eine Möglichkeit gegeben, sich direkt vor Ort gegen das Verhalten der spanischen Behörden zu wehren, gegebenenfalls mit Unterstützung aus Deutschland oder deutscher Behörden?
Feltes/Schröder: Ja, aber das hätte die Gefahr einer weiteren Inhaftierung bedeutet, wie es das Bundesverfassungsgericht ausgeführt hat. Hätte man sich noch in Spanien gegen das Urteil gewehrt, wäre die Grundlage der Freilassung (Geständnis und eventuell Rechtsmittelverzicht) weggefallen (vgl. Rn. 25).
schwatzgelb.de: Grundsätzlich: Was kann ich tun, wenn ich das Gefühl habe, dass mir als Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen eines Fußballspiels grobes Unrecht wiederfährt? Welche Rechte habe ich? Und wie wurden sie 2010 in Sevilla verletzt?
Feltes/Schröder: Wie schon gesagt, könnte man sich an die deutsche Botschaft wenden und um Hilfe bitten. Auch bietet es sich an, die Nummern spezialisierter Fananwälte parat zu haben. Gegebenenfalls besteht die Möglichkeit, auch Kontakte zu ausländischen Anwälten zu knüpfen (was jedoch, wie wir wissen, mit gewissen Schwierigkeiten behaftet ist). Wieder in Deutschland sollte man schnell Akteneinsicht fordern und wenn möglich, Rechtsmittel einlegen. Zu den elementaren Verfahrensgrundsätzen gehört der nemo-tenetur-Grundsatz, also das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen. Auch das Recht, einen Anwalt zu konsultieren, zählt hierzu. Beides wurde in Sevilla grob missachtet.
"Beschleunigte Verfahren sind in Deutschland nur in engen Grenzen zulässig und umstritten"
Dazu hatten die Fans keine Möglichkeit, Stellung zu nehmen, sie wussten nicht um die Vorwürfe Bescheid und sind hinsichtlich des Geständnisses psychisch unter Druck gesetzt worden. In Deutschland stehen bei letzteren Verfahrensmängeln Beweisverwertungsverbote im Raum, das heißt, die Aussagen dürfen im Verfahren nicht beachtet werden.
schwatzgelb.de: Schnellverurteilungen werden im Kontext von Gewalt bei Fußballspielen auch in Deutschland immer wieder gefordert. Gäbe es hierfür überhaupt eine rechtliche Grundlage?
Feltes/Schröder: Nach den §§ 417 ff. StPO ist ein sogenanntes beschleunigtes Verfahren auch bei uns möglich. Diese Verfahren sind jedoch nur in engen Grenzen, beispielsweise bei aufgeklärtem Sachverhalt und einfacher Beweislage, zulässig und zudem umstritten. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu in unserer Entscheidung klargestellt, dass das beschleunigte Verfahren in Deutschland aber nicht mit dem spanischen Schnellverfahren zu vergleichen ist (vgl. Rn. 24).
schwatzgelb.de: Das Bundesverfassungsgericht ist die höchste gerichtliche Instanz in der Bundesrepublik. Erwarten Sie eine entsprechende Strahlwirkung des Urteils?
schwatzgelb.de: Welche Lehren ziehen Sie aus dem Urteil und erheben Sie bestimmte Forderungen?
Feltes/Schröder: Wenn das Kind erst einmal in den Brunnen gefallen ist, wenn ich also als Fußballfan im Ausland festgesetzt oder verhaftet worden bin, kann es – wie wir gesehen haben – extrem schwierig sein, aus dieser Situation herauszukommen. Obwohl die BVB-Fans in Sevilla gut organisiert und durch die Fanbeauftragten des BVB auch betreut waren, hatten diese keine Möglichkeit, den Inhaftierten zu helfen. Daher ist es im Ausland noch mehr als im Inland wichtig, sich von Situationen fernzuhalten, die solche Festnahmen durch die Polizei auslösen könnten. Und für den Fall, dass es dann doch passiert, sollte man die Notfall-Nummer der Deutschen Botschaft mitnehmen. Die Fanbetreuer sollten im Vorfeld einen vertrauenswürdigen Anwalt vor Ort kontaktieren und ihn bitten, vor, während und nach dem Spiel telefonisch erreichbar zu sein.
schwatzgelb.de: Wir bedanken uns für das Gespräch