Im Fokus: Raphaël Guerreiro
Der BVB steht vor einer interessanten Saison mit vielen neuen und unbekannten Gesichtern, da ist es besonders nervtötend, dass der Saisonstart dieses Jahr nur tröpfchenweise kommt. Zudem war die Vorbereitung von zahlreichen Späteinsteigern geprägt, von denen einige auch in den ersten Pflichtspielen noch außen vor waren. Unmittelbar vor dem zweiten Saisonstart herrscht daher noch immer großes Rätselraten, wie all die neuen Puzzlestücke am Ende zusammenfinden werden. Ein Neuzugang, von dem wir bislang noch wenig gesehen haben, der die Fantasien der Fans aber besonders anregt, ist Raphaël Guerreiro. Seine Leistungen beim FC Lorient in der französischen Liga wird kaum jemand von uns seriös bewerten können, umso gespannter schauten BVB-Fans auf seine Darbietungen bei der EM in Frankreich, wo er sich als Linksverteidiger einen Stammplatz in der portugiesischen Nationalmannschaft erspielte und überraschend Europameister wurde. Sein mutiges Offensivspiel und seine Fähigkeiten bei Standards fielen schnell auf, weshalb schon bald die Frage nach der Zukunft von Marcel Schmelzer gestellt wurde.
Nachdem zunächst aus der letzten Gruppe der Nachzügler bislang nur André Schürrle in die Startelf aufrücken konnte, dürften nun bis auf Mario Götze alle EM-Teilnehmer die nötige körperliche Fitness haben, um Thomas Tuchel als ernsthafte Alternativen zur Verfügung zu stehen. Sehen wir Guerreiro also demnächst als linken Außenverteidiger in der Viererkette? Die Frage begleitete mich auf dem Weg zum WM-Qualifikationsspiel zwischen der Schweiz und Portugal in Basel am letzten Dienstag. Eher zufällig war die Werbemail eines Ticketanbieters in meinem Postfach gelandet und nach Basel wollte ich dieses Jahr ohnehin, wenn auch zu einem anderen Spiel. Warum also nicht ein paar Eindrücke von unserem Europameister sammeln und nebenbei die sehenswerte Stadt genießen?
Mit 36.000 Plätzen ist der St. Jakob-Park von überschaubarer Größe und, wenn die Schweizer Nationalmannschaft spielt, auch nicht sehr atmosphärisch. Selbst ein 2:0 Sieg über den Europameister animierte nur sehr phasenweise zum Support, während die Portugiesen von einer kleinen Ultragruppe angeführt einen besseren Auftritt hinlegten. Der Spielverlauf war für Portugal unglücklich, das 1:0 für die Schweiz nach einem Standard kam etwas überraschend und auch das 2:0 nach einem Konter war überflüssig, da schlecht verteidigt. Im Vergleich zur Europameisterschaft zeigten die Portugiesen, die ohne den angeschlagenen Cristiano Ronaldo antraten, einen stärkeren Zug nach vorne, ließen aber in weiten Teilen Durchschlagsfähigkeit vermissen. Raphaël Guerreiro fügte sich in diese Mannschaftsleistung gut ein: Nach vorne sah vieles gut aus, im Defensivspiel waren jedoch auch einige Schwächen zu beobachten.
Auffällig war zunächst einmal das sehr agile Offensivspiel des erneut als Außenverteidiger aufgestellten Neu-Borussen. Er bearbeitete seine Seite mit hohem Tempo und rückte immer wieder weit auf. Dabei zeigte er eine hohe Ballsicherheit. Er ist in der Lage, auch lange hohe Bälle schnell zu verarbeiten und sein Passspiel wirkte – meist jedoch über kurze Distanz – sicher. Sein linker Fuß ist unheimlich stark, die Flanken, die er auch ansatzlos im Sprintduell schlagen kann, sind scharf und mit geringer Streuung. Obwohl er noch relativ neu im Kreis der Nationalmannschaft ist, übernahm er die Ausführung vieler Standards und auch seine Ecken konnten sich sehen lassen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen zögerte Guerreiro auch nicht, wenn er die Möglichkeit zu einem Torabschluss hatte.
Wirkte das Offensivspiel von Guerreiro wie ein Versprechen, zeigte das Defensivspiel unübersehbare Schwächen. Bei beiden Gegentoren machte er eine unglückliche Figur. Beim 0:1 hatte er zunächst einen wichtigen Zweikampf an der Grundlinie für sich entschieden, doch anstatt die Situation endgültig zu klären, spielte er einen Fehlpass ins Zentrum unmittelbar vor den Strafraum. In der Folge gelang es den Portugiesen nicht mehr, die Situation ohne Foul in den Griff zu bekommen, aus dem anschließenden Freistoß resultierte das erste Tor. Auch beim Konter, der zum 2:0 führte, sah der Außenverteidiger schlecht aus. Weit aufgerückt war er gezwungen, in einem langen Sprint zurückzueilen, deckte dabei jedoch den gleichen Raum wie sein Innenverteidigerkollege Pepe, den er noch fast über den Haufen rannte, während auf seiner linken Seite Haris Seferović enteilte. Der bei der Frankfurter Eintracht unter Vertrag stehende Stürmer konnte so den Ball unbedrängt annehmen und zurück ins Zentrum spielen, wo der Leverkusener Admir Mehmedi ihn gefühlvoll einnetzte. Über diese beiden Schlüsselszenen hinaus zeigte Guerreiro wiederholt Schwierigkeiten beim Defensivzweikampf, in dem er öfter zu spät kam und körperlich unterlegen wirkte. Wechselhaft war hingegen seine Körpersprache. Er war erkennbar ehrgeizig und selbstkritisch, bot sich regelmäßig an und zeigte Enttäuschung, wenn er nicht angespielt wurde, ohne dabei allerdings in Exzentrik zu verfallen. Der Spielverlauf setzte ihm allerdings erkennbar zu, er litt unter der Unfähigkeit der Portugiesen, wirkliche Torgefahr zu entwickeln und wirkte zunehmend frustriert. Am Ende der Partie wirkte er auch etwas lethargisch, wobei schwer zu beurteilen ist, ob diese Müdigkeit körperliche oder mentale Ursachen hatte.
Sicherlich wäre es falsch, die Eindrücke eines Spiels absolut zu setzen, sie bieten aber eine schlüssige Erklärung dafür, weshalb Tuchel Guerreiro bislang bei seinen kurzen Einsätzen in der Regel im Mittelfeld eingesetzt hat, meist auf einer etwas hybriden 6er/8er-Position. Hier kann er seine offensiven Stärken gut zur Geltung bringen, ohne dass die Defensivschwächen im gleichen Maße zu Buche schlagen. Er wäre sicherlich auch eine sehr gute Besetzung als vorgerückter Außenverteidiger in einer 3-5-2-Formation, in einer klassischen Viererkette dürfte Marcel Schmelzer hingegen aufgrund der höheren Defensivqualität erstmal die Nase vorn haben. Im schnelllebigen Fußball muss das nicht viel heißen. Guerreiro ist mit seinen 22 Jahren noch jung genug, um erfolgreich an seinen Defensivschwächen zu arbeiten, zugleich beweist sein Offensivspiel bereits jetzt, wie wertvoll er für den runderneuerten BVB werden kann.
PatBorm, 8. 9. 2016