Stefan, 03+1.05.2015
Wie die Tore der Stadt Darmstadt verbarrikadiert werden sollten und der Sturm ausblieb
Unser Autor Stefan ist Jurist, Fußballfan und liebt den BVB. Er schreibt zu rechtlichen Themen rund um Fußball und den BVB. Ihr findet Stefan auch bei Twitter unter @surfin_bird.
Es soll hier nicht um den BVB gehen und nur am Rande um Fußball an sich. Im Mittelpunkt steht der in Fankreisen viel diskutierte Versuch der Stadt Darmstadt, anreisenden Fans der SGE den Zugang zur Stadt zu untersagen. Und ich nehme das Ergebnis vorweg: dieser Versuch war von vorneherein zum juristischen Scheitern verurteilt und nach meiner Einschätzung im Wesentlichen ein politisches Manöver.
Ich beschäftige mich als Jurist nur am Rand mit öffentlichem Recht, werde aber versuchen, die Fragestellungen so weit verständlich zu machen, dass die Abläufe nachvollziehbar werden. Gelingt dies nicht, liegt es an mir, nicht am öffentlichen Recht.
Der Sachverhalt
Bevor ich auf die rechtlichen Fragen eingehe, kurz zum Sachverhalt:
Insbesondere beim Hinspiel im Dezember hatten Teile der SGE-Fans mit der Folge randaliert, dass keine Gäste beim Spiel im Darmstadt zugelassen waren (und die SGE Darmstadt die entgangenen Einnahmen ersetzen musste). Diese Maßnahme erschien der Stadt Darmstadt offenkundig nicht als ausreichend. Der Begriff „Stadt Darmstadt“ steht hierbei für die zuständigen staatlichen Behörden, letztlich in der Person des Bürgermeisters Rafael Reißer (CDU), der auch Ordnungsdezernent und damit insbesondere für polizeiliche Fragen und die innere Sicherheit verantwortlich ist.
Ich vermag nicht zu beurteilen, welche Gefahrenprognosen der Stadt vorlagen, aber offenkundig hielten sie es für angebracht, im Wege der Allgemeinverfügung die Innenstadt von Darmstadt für den Zeitraum von Freitagabend (19 Uhr) bis Sonntagmorgen (7 Uhr) zur Sperrzone für Fans der SGE zu erklären.
Gegen diese Allgemeinverfügung (zur Begrifflichkeit und Rechtslage sogleich) wehrten sich einige Betroffene und das Verwaltungsgericht Darmstadt ordnete mit Entscheidung vom 29.04.2016 die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Widersprüche gegen die Allgemeinverfügung an (das klingt kompliziert, ist es auch, aber Differenzierung ist jetzt wichtig), so dass die Allgemeinverfügung für die Antragsteller nicht gegolten hätte. Dessen ungeachtet erklärte die Stadt Darmstadt, an der Allgemeinverfügung festhalten zu wollen. Diese Missachtung rechtsstaatlicher Grundsätze ist mit Dreistigkeit nicht hinreichend erklärt und währte auch nicht lange. Die Stadt hob das Betretungsverbot schließlich auf.
Es gab natürlich Kloppe auf den Rängen, in der Stadt und ein 2:1 der Eintracht.
Handelt der Staat gegenüber seinen Bürgern hoheitlich (also in einem Über- Unterordnungsverhältnis), so geschieht dies meist durch einen Verwaltungsakt („VA“). So nennt man staatliches Handeln gegenüber dem Individuum. Es kann begünstigend sein (Du erhältst BAföG in Höhe von x EUR), aber eben auch nachteilig und sanktionierend (Dein Auto ist dermaßen alt und ohne Bremsen, das fährst du nicht weiter!). Grundlage für den Erlass von Verwaltungsakten ist das Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) des Bundes bzw. die wortgleichen Vorschriften der Länder. Wobei ich hier auf die Wiedergabe von gesetzlichen Vorschriften im Wortlaut verzichte, wenn es nicht unerlässlich ist für das Verständnis von den Vorgängen. Wer mag, schlägt es nach und rührt mich mit seiner Begeisterung für Verwaltungsrecht zu Tränen.
Die hier gegenständliche Allgemeinverfügung (§ 35 Satz 2 VwVfG) ist ein Sonderfall des Verwaltungsaktes, als sie sich an einen unbestimmten Adressatenkreis richtet und nicht wie der VA an einen konkreten Adressaten; also an alle Fans der SGE, die die Innenstadt Darmstadt betreten wollen (Ihr fragt euch wie man einen Fan erkennt? Ich auch und auch das Verwaltungsgericht Darmstadt). Den Hauptanwendungsfall kennt ihr alle: Das Verkehrsschild ist eine Allgemeinverfügung.
Will man gegen eine solche Allgemeinverfügung vorgehen, muss man sich an das verwaltungsgerichtliche Prozedere und die Eskalationsmechanismen halten. Also bei der zuständigen Behörde Widerspruch einlegen; ein solcher Widerspruch hat dann bis zur Entscheidung aufschiebende Wirkung und die Allgemeinverfügung entfaltet keine Wirkung. Das würde hier natürlich nicht so recht Sinn ergeben, weil man nicht am Mittwoch entscheiden will, ob der Fan am Samstag die Innenstadt betreten hätte betreten dürfen. Darum hat hier nach § 80 Absatz 2 Satz 1 Nr. 2 VwGO analog (Analog? Und wieso VwGO, oben doch noch VwVfG?? Hääh? Erkläre ich gerne beim Bier in der Roten Erde, führte hier aber nirgendwohin) der Widerspruch gerade keine aufschiebende Wirkung und die Betroffenen müssen zum Gericht. Dieses kann dann nach § 80 Absatz 5 VwGO die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherstellen. Dies tat das Verwaltungsgericht Darmstadt.
Warum tat es dies? In einem solchen Eilverfahren gilt folgender Prüfungsmaßstab: Überwiegen die legitimen Interessen des Antragstellers das Interesse an einem sofortigen Vollzug (remember: keine aufschiebende Wirkung, Verfügung gilt sofort), dann wird aufschiebende Wirkung angeordnet. Dabei erfolgt eine summarische Prüfung des Widerspruchs an sich. Ist danach aufgrund der vorgebrachten Argumente wahrscheinlich, dass der Antragsteller Erfolg hat, wird die aufschiebende Wirkung angeordnet, denn ein Interesse am sofortigen Vollzug rechtswidrigen staatlichen Handelns gibt es nicht.
Was hier dann passierte ist sehr selten und wurde von mir als die vierfache Ohrfeige des Gerichts für die Stadt bezeichnet. Denn das Gericht geht (völlig zurecht) davon aus, dass die Allgemeinverfügung weder „geeignet, noch erforderlich, noch verhältnismäßig“ ist und zudem noch „zu unbestimmt“ — Es bestünden schon Zweifel, ob der Tatbestand überhaupt erfüllt sei.
Um das beurteilen zu können, brauchen wir den Tatbestand. Hier ist er in Gestalt des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG):
§ 31 Platzverweisung
(1) …
(2) …
(3) Rechtfertigen Tatsachen die Annahme, dass eine Person in einem bestimmten örtlichen Bereich innerhalb einer Gemeinde eine Straftat begehen wird, so können die Gefahrenabwehr- und die Polizeibehörde ihr für eine bestimmte Zeit verbieten, diesen Bereich zu betreten oder sich dort aufzuhalten, es sei denn, sie hat dort ihre Wohnung oder sie ist aus einem vergleichbar wichtigen Grund auf das Betreten des Bereichs angewiesen (Aufenthaltsverbot). Das Aufenthaltsverbot ist zeitlich und örtlich auf den zur Verhütung der Straftat erforderlichen Umfang zu beschränken. (…)
Also, fangen wir an. Wer ist denn nun SGE-Fan? An wen richtet sich die Verfügung also? Es ist schon nicht klar, ob alle SGE-Fans gemeint sein sollen oder halt nur solche, wo dies nach außen, etwa durch das Tragen entsprechender Fanutensilien (Schal, Fahne, lebender Adler auf dem Unterarm), erkennbar ist. Gemeint war von der Stadt wohl Letzteres, wobei das in der Verfügung aufgeführte „sonstige Auftreten“ in seiner Bedeutung mir völlig schleierhaft ist. Ich kann mich durch das Absingen einschlägiger Fanhits und durch Fanutensilien als Fan erkennbar machen. Aber „sonstiges Auftreten“, was soll das sein - Grunzen beim Bestellen von Getränken? Schwierigkeiten beim Einmaleins? Ich fürchte, in diese Richtung gingen die Überlegungen der Stadt. Insgesamt bestehen also bereits erhebliche Bedenken an der Bestimmtheit, die § 37 VwVfG voraussetzt.
Weiter: Unterstellen wir, die Fans und damit die Adressaten seien hinreichend eindeutig erkennbar und individualisierbar, Bestimmtheit also gegeben, liegen denn die Tatbestandsvoraussetzungen von § 31 HSOG überhaupt vor? Die Norm setzt als Grundlage für eine Allgemeinverfügung voraus, dass bei jedem Adressaten die Gefahr besteht, dass er in der Innenstadt Darmstadt Straftaten begeht; also bei jedem anreisenden SGE-Fan. Und eigentlich sollten hier schon bei der Stadt die Alarmglocken in rechtlicher Hinsicht überlaut schrillen. Es ist schlicht nicht ansatzweise vorstellbar, dass die Stadt über eine plausibel dokumentierte Gefahrenprognose oder Lageeinschätzung verfügte, die eine solche Prognose durchgehender Neigung zu Straftaten erlaubt. Offensichtlich hat die Stadt dies auch noch nicht einmal im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorgetragen. So jedenfalls die Ausführungen des Gerichts.
Es ist uns allen bekannt, dass jede Fanszene (auch unsere eigene) eine Reihe von Gestalten hervorbringt, mit denen man nicht an einem Tisch sitzen möchte. Mit einigen möchte man aus guten Gründen noch nicht einmal im selben Raum sein. Und jener Kreis der Mühseligen und Beladenen mit nachgewiesener Begeisterung für Straftaten mag bitte von der Polizei mit aller Konsequenz angegangen werden; durch Individualmaßnahmen im Vorfeld und in zeitlicher und räumlicher Nähe zur Fahrt nach Darmstadt. Aber eben nicht über einen Pauschalverdacht, der nicht einmal in einem Mindestmaß evidenzbasiert ist.
Kommen wir zur Verhältnismäßigkeit. Ein grundlegender und den gesamten Bereich des öffentlichen Rechts durchziehender Grundsatz. Man sollte davon ausgehen, er sei auch bei der Stadt bekannt. Er lautet in einer griffigen Form:
„Kollidierende Interessen, Freiheiten oder Rechtsprinzipen werden nur dann in ein angemessenes Verhältnis zueinander gesetzt, wenn und soweit das zu wahrende Interesse, Freiheitsrecht oder Rechtsprinzip schwerer wiegt als das ihm aufgeopferte.“
Und auch hier muss man mit dem Verwaltungsgericht Darmstadt zu der Auffassung gelangen: Sechs, setzen. Denn die Adressaten würden durch eine solche Verfügung unmittelbar und massiv in ihrem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit, Art. 2 Absatz 1 GG eingeschränkt. Erstes Kriterium für die Rechtmäßigkeit des Eingriffs ist die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer grundrechtseinschränkenden Maßnahme.
Die Stadt verfolgt mit der Maßnahme ohne jeden Zweifel einen legitimen Zweck, nämlich die massenhafte Begehung von Straftaten zu verhindern. Und da liegt mir auch jede Fanromantik und Ultra-Attitüde so fern wie es nur geht: Wer Straftaten begeht und sich aufführt wie ein Arschloch, der soll bestraft werden und der ist ein Arschloch. Und es ist auch nicht völlig von der Hand zu weisen, dass angesichts des ohnehin geltenden Stadionverbotes eher die Kategorie Arschloch-Fan anreist als die Kategorie Familienausflug. Und auch die Erwartung, dass aus dem Kreis dieser Fans Straftaten begangen werden (nochmals: aber eben nicht von allen) liegt so fern nicht und es kam dann zumindest auch zu gewalttätigen Aktionen in der Innenstadt. All dies ist richtig. Und doch ist die Allgemeinverfügung schon nicht geeignet, jedenfalls aber bestehen erhebliche Zweifel an der Geeignetheit. Denn die Allgemeinverfügung ist erstens ohne besonderen Aufwand und eher mühelos zu unterlaufen, indem ich halt nicht nach außen ersichtlich als SGE-Fan auftrete, und zweitens bestehen begründete Zweifel, ob sich die echten Patienten aus der Fanszene durch eine solche Allgemeinverfügung abschrecken lassen. Ich glaube: eher nicht.
Scheitert die Prüfung also schon an der Geeignetheit, so ist noch weitergehend auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (das ist ein feststehender juristischer Begriff) einschlägig. Die Einschränkung der Grundrechte steht in keinem Verhältnis zum angestrebten Zweck. Denn weit überwiegend wären von der Verfügung Personen betroffen, die keine Straftaten begehen oder beabsichtigen, solche zu begehen.
Das ist in einem freiheitlichen Rechtsstaat nicht hinzunehmen. Und abweichende Auffassungen dürften hier nicht mehr vertretbar sein. Schrieb man zu Unizeiten hanebüchenen Stuss in Klausuren, dann bekam man als Randkorrektur, wenn man Glück hatte, die Bemerkung: „Gerade noch vertretbar“. Diese Schwelle hat die Stadt Darmstadt mit Schmackes überschritten.
Formell allerdings hatte die Stadt im Ausgangspunkt recht: Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Darmstadt entfaltet Wirkung nur zwischen den Parteien, also zwischen Antragsteller und Stadt. Nur für konkreten Antragsteller galt die Allgemeinverfügung also nicht. Aufgehoben war sie nicht.
Wenn der Bürgermeister ausführt: „Ich kann die vom Verwaltungsgericht Darmstadt vorgenommenen Prüfungen und Abwägungen nur bedingt nachvollziehen“ und mit dieser Begründung die Verfügung aufrechterhalten will, bin ich allerdings einigermaßen fassungslos. Und damit nicht allein. Der Gerichtssprecher des Verwaltungsgerichts: „Das zeugt schon von einem gewissen rechtsstaatsfernen Verhalten“. Wer weiß, wie gewählt und zurückhaltend sich Juristen üblicherweise ausdrücken, erkennt hier eine beeindruckende Schärfe gegenüber dem Verhalten und den Erklärungen der Stadt. Es entspricht der Praxis, bei so einer Abfuhr die Allgemeinverfügung dann auch aufzuheben. Denn was passiert sonst? Das Gericht wird jeden formell ordnungsgemäß gestellten Antrag durchwinken. Potentiell hunderte von Anträgen wären zu bescheiden. Alle auf Staatskosten. Und dabei sind die Kosten, die durch die notwendige Erhöhung der Bereitschaft des Verwaltungsgerichts entstehen, noch gar nicht eingerechnet.
Will man das Praxis- und Kostenargument nicht gelten lassen, so überzeugen (mich) schon grundlegende Gedanken zur Rechtsstaatlichkeit. Eine Allgemeinverfügung ist in sechs Fällen als eklatant rechtswidrig erachtet worden und wird es in jedem weiteren Fall, der zu Gericht gebracht wird. Eine Gemeinde, die an Recht und Gesetz gebunden ist, kann diese einhellige Beurteilung nicht zur Seite fegen und sagen: „Ist mir egal“. Zu dieser Einschätzung ist dann wohl auch irgendwann die Stadt gekommen, wobei ich davon ausgehe, dass die Behördenjuristen ihren Teil beigetragen haben, und hat die Allgemeinverfügung aufgehoben. Vorsichtig geschätzt 9 von 10 Juristen hätten der Stadt dieses Ergebnis exakt so vorhergesagt – warum also? Warum? An die rechtliche Durchsetzbarkeit können sie nicht geglaubt haben, es bleibt also letztlich nur die Einschätzung als politisches Manöver. Wäre Darmstadt gründlich geplündert und gebrandschatzt worden, wollten die Verantwortlichen sagen können: Wir haben alles versucht. Eine andere plausible Erklärung habe ich nicht.
Und mit ein paar Tagen Abstand bleibt die Feststellung, dass über 300 Antragsteller rechtzeitig beim Verwaltungsgericht Darmstadt interveniert haben. Und das Verwaltungsgericht war über den gesamten Vorgang so erstaunt, dass es sich den Seitenhieb gegen die Stadt nicht verkniffen hat und per Pressemitteilung die für die Stadt entstehenden Kosten mitteilt: ca. 165.000 EUR.
Exkurs:
Wie sieht es mit den Überlegungen aus, Sportskamerad Hummels ein Stadtverbot für München (so fragen die Traurigen) oder Dortmund (so fragen die Dogmatiker) aufzuerlegen. Was sagt der Rechtsstaat? Der Rechtsstaat sagt: Eure Trauer, eure Wut, eure Fassungslosigkeit will ich nicht maßregeln, kann ich nicht maßregeln. Es sind moralische Kategorien und sie unterliegen daher der Ausgestaltung durch jedes Individuum. Es hilft euch kein Gericht bei der Frage, ob ihr pfeifen sollt. Und erst wenn ihr echt Grenzen überschreitet, dann klärt das Gericht euch unter Umständen über die Grundlagen einer strafwürdigen Beleidigung auf. Fragt ihr mich – club over player every time. Tschüss, Kerr.