Illy Unverzichtbar
Nach über einem Jahr der Leidenszeit mit Verletzungen und Rückschlägen, findet Ilkay Gündogan immer mehr zur Topform zurück. Obwohl von manchen Fans noch kritisch beäugt, war der Mittelfeldstratege für den BVB nie wertvoller als zurzeit.
Der 25. Mai 2013 gilt für die meisten Schwarzgelben als einer der dunkelsten Tage der jüngeren Vereinsgeschichte. Das Endspiel der Champions League gegen den roten Dauerrivalen aus München im Londoner Wembleystadion markierte den Schlussakt einer herausragenden Dortmunder Saison auf Europas größter Bühne. So ausgesprochen bitter und schmerzhaft die Niederlage auch war, zu einer Erkenntnis gelangten viele Beobachter auch an diesem Abend wieder: Ilkay Gündogan hat das Potenzial zur absoluten Weltklasse. Er dirigierte und trieb an, schaltete um und verschleppte. War Katalysator dafür, dass die Münchner in der ersten halben Stunde von den Dortmundern eingeschnürt wurden und der BVB nach 20 Minuten schon fünf Ecken zu verzeichnen hatte. Fast bezeichnend für die Leistung und die Saison des damals erst 22 - jährigen Mittelfeldmotors war sein Ausgleichstreffer per Elfmeter in Minute 68. Von vielen Experten damals schon als sicherer Nachfolger von Xavi oder Iniesta bei Barcelona gesehen, hätte dieser Moment für die #8 des BVB den Startschuss für eine Weltkarriere bedeuten können.
Tiefpunkt und Rückschlag
Viel ist seit besagtem Abend passiert. Zu viel, würde man den gebürtigen Gelsenkirchener danach befragen. Denn am 14. August selben Jahres kam der steile Aufstieg zu einem abrupten Stopp. Als Gündogan im Länderspiel gegen Paraguay verletzt ausgewechselt wurde, konnte niemand vermuten, welch eine Leidensphase dem jungen Nationalspieler bevorstehen würde. Die Diagnose: Stauchung der Wirbelsäule. Aus der vorerst prognostizierten Pause von nicht mehr als zwei Wochen wurden mehrere. Aus mehreren Wochen wurden Monate. Obwohl Rückenverletzungen mit der mitunter größten Vorsicht zu behandeln sind, begann bei vielen Anhängern und auch Verantwortlichen leichtes Rätselraten. Auf allwöchentliche Nachfragen auf PKs vor Spielen wusste niemand so recht eine Antwort. Es sei „nicht seriös, eine genaue Prognose abzugeben“, so der zwischenzeitliche Wortlaut von Sportdirektor Michael Zorc. Niemand wagte, den Zeitpunkt einer vollständigen Genesung vorherzusagen. Im Wintertrainingslager dann der Silberstreif am Horizont: Gündogan mischte kurzzeitig wieder voll im Mannschaftstraining mit. Die Freude war jedoch nur von kurzer Dauer, denn Tage später setzte eine Bronchitis den Sechser schon wieder außer Gefecht. So zumindest die offizielle Version. Denn in Wahrheit war es wieder einmal der entzündete Nerv im Lendenwirbel der keine Ruhe gab, und Mitte April 2014 gab es für Gündogan die traurige Gewissheit: die WM in Brasilien findet ohne ihn statt. Eine sicherlich nachvollziehbare Entscheidung, einen nur halbfitten Spieler nicht in den Wettkampfkader zu nominieren, war dies trotzdem der vorläufige Tiefpunkt und größte Rückschlag in der Karriere des jungen Deutsch - Türken.
Das Ende der Leidenszeit
Angetrieben von unzähligen Rückschlägen während dieser elendigen Leidenszeit von über einem Jahr, während der er sich im Juni 2014 noch einer Lendenwirbelsäulenoperation unterzog, kämpfte Gündogan sich zum Herbst der letzen Saison langsam aber sicher wieder zurück und in den Dunstkreis des Stammkaders der Borussia. In einer historisch schlechten und von Unglück geprägten Saison, in welcher der BVB im Februar 2015 zwischenzeitlich sogar auf Platz 18 weilte, war Gündogan auf dem Weg der persönlichen Rehabilitation noch einer der wenigen Lichtblicke auf dem Platz. Immer wieder blitzte in einzelnen Szenen und Aktionen sein spielerisches Potenzial und seine Klasse auf, doch auch er konnte den Karren nicht alleine aus dem Dreck ziehen, und so wechselten sich auch bei ihm häufig Licht und Schatten ab. Die Rückrunde gestaltete sich für den BVB diametral zur ersten Hälfte der Bundesligasaison, und mit dem Erfolg der Mannschaft sah auch Langzeitpatient Ilkay wieder Licht am Ende des Tunnels. Denn am 25. März 2015 schloss sich mit dem Länderspiel gegen Australien ein Kreis, indem Gündogan mit Kaiserslautern an den Ort zurückkehrte, an dem die bislang härteste Phase seiner noch jungen Profikarriere ihren Beginn verzeichnete. „Jetzt Ansprüche zu stellen, wäre nicht richtig“, ließ er am Rande des Freundschaftsspiels gegen Australien verlauten. Geduld und Gelassenheit waren nur zwei der Eigenschaften, welche er sich während seiner Leidenszeit zu eigen machen musste.
Die Saison schloss der BVB nach einer bemerkenswerten Aufholjagd auf einem soliden 7. Platz ab, und qualifizierte sich somit noch dafür an der Quali zur Europa League teilnehmen zu dürfen. Im Zuge dessen stabilisierten sich auch Gündogans Leistungen und erinnerten in Ausschnitten an die überragende Saison 2012 / 13. Parallel dazu und unmittelbar an Gündogans Leistungen geknüpft, entwickelte sich über die Zeit ein eher unangenehmer Nebenschauplatz, nämlich der der Vertragsverhandlungen. Vertraglich noch bis Ende 2016 an die Borussia gebunden, entschied sich der Nationalspieler nach langen und zähen Gesprächen mit den Verantwortlichen schlussendlich dafür, den BVB zum Sommer hin zu verlassen, um dem Verein zumindest noch eine hohe zweistellige Ablöse einzubringen. Mehrere Wochen vergingen, und Gerüchte machten sich breit, wonach sich Gündogan und Beratergefolgschaft (Vater und Onkel) bei Vertragsverhandlungen mit potenziellen neuen Arbeitgebern „verzockt“ hätten. Die Rede war von Gehaltsvorstellungen im zweistelligen Millionenbereich, denen keiner der interessierten Klubs nachkommen wollte, und es deshalb zu keiner Einigung kommen konnte. Nach ergebnislosen Wochen machte sich unter den BVB - Anhängern immer größerer Unmut breit. Das erste Mal in Ilkays Karriere war von Söldnertum, Geldgier und Realitätsverlust die Rede. Sein Status innerhalb des Teams hing in der Schwebe, der Verein hatte keine Planungssicherheit und die Beliebtheit bei den Fans sank in den Keller. Im Juli dann die plötzliche Wende: „BVB verlängert Vertrag mit Ilkay Gündogan“. Die Situation schien klar: der Spieler wollte zu viel, doch unter anderem aufgrund der Verletzungshistorie wollte kein Verein das Risiko einer relativ teuren Verpflichtung eingehen. Für den BVB wiederum war auch klar, dass ein Spieler von solcher Qualität nur für reichlich Geld abgegeben werden würde. Der Vertrag wurde um ein weiteres Jahr bis 2017 verlängert, und alle Parteien bemühten sich darum wieder Ruhe in die Situation zu bringen. Letztendlich ist es schwierig für Unbeteiligte und Außenstehende zu beurteilen was sich in letzter Konsequenz wirklich abgespielt hat, für die meisten Fans bleibt trotz allem ein fader Beigeschmack.
Essenzielle Rolle unter Tuchel
Mit der Verpflichtung des neuen Trainers Thomas Tuchel hatte Gündogan jedoch ein Argument zur eigenen Verteidigung parat, mit dessen Hilfe er der schwarzgelben Anhängerschaft wenigstens halbwegs glaubhaft vermitteln konnte, dass eine weitere Zusammenarbeit mit dem Klub aufgrund der neuen und aufregenden sportlichen Perspektive sinnvoll erscheint und immer in Betracht gezogen wurde. Letztlich soll ein persönliches Gespräch mit dem neuen Coach den Ausschlag für einen Verbleib gegeben haben.
Wie auch schon unter Jürgen Klopp, sollte Ilkay auch in Tuchels Spielsystem eine essenzielle Rolle einnehmen. Denn betrachtet man die derzeitige Verfassung und Form des BVB, ist der Einfluss Gündogans auf das Spiel unübersehbar und der Erfolg des Teams unmittelbar mit den Leistungen des 25 - jährigen verknüpft. Schon früh in der Saison deutete vieles darauf hin, dass die langwierige Verletzung keinen Einfluss mehr auf das von schnellen Wendungen und Bewegungen geprägte Spiel Gündogans haben würde. Ein von Thomas Tuchel neu gerichteter Fokus auf kontrollierte und gesündere Ernährung half zudem dabei, überflüssige Pfunde verschwinden zu lassen und auch körperlich wieder auf Topniveau agieren zu können. Die Rolle als erste Station im überfallartigen Umschaltspiel nach Ballverlust des Gegners, welches auch unter dem neuen Trainer einen Hauptbestandteil des Offensivspiels darstellt, ermöglicht Gündogan mehr denn je seine überragende Übersicht und Passstärke auszuspielen. Mit finalen Pässen durch die Schnittstellen der Abwehr, verzeichnet er diese Saison sehr viele indirekte Torbeteiligungen, auch „Hockey - Assists“ genannt. Das bedeutet nichts anderes, als das sein Pass in die Tiefe meist das vorletzte Zuspiel vor einer direkten Torbeteiligung, also dem direkten Assist oder einem Tor, darstellt. In dieser Saison ist dies vor allem häufig zu beobachten, wenn entweder Reus, vor allem aber Mkhitaryan im Strafraum angespielt werden und für einen Torerfolg meist nur noch quer zu legen brauchen oder jenes Tor selber erzielen können. Des weiteren ist das Offensivspiel des BVB in dieser Saison durch ein sehr hohes Aufrücken der beiden Außenverteidiger gekennzeichnet, mit der Absicht, in Ballbesitz auf den Flügeln Überzahlsituationen zu schaffen. Durch lange und präzise Diagonalbälle, fast ausschließlich von Gündogan aus den jeweiligen Halbräumen rechts oder links im Mittelfeld auf die weit aufgerückten oder gerade einlaufenden Außenverteidiger gespielt, ist es für den BVB möglich, das Spiel schnell und effektiv zu verlagern und in die Breite zu ziehen. Für all diese Aspekte des Dortmunder Spiels ist es essenziell und so gut wie alternativlos, dass Ilkay Gündogan auf dem Platz steht. Hinzu kommt die natürlich noch immer herausragende Technik und Ballbehandlung, mit der seine Gegenspieler regelmäßig aus den Socken gehoben werden und mit der Gündogan in der Lage ist, sich schon bei der Ballannahme entscheidend von seinem Gegenspieler lösen zu können.