Der alte Mann mit dem Dropkick hilft der Borussia auf den richtigen Weg
Verkehrte Welt in Dortmund: Normalerweise hilft man älteren Mitmenschen beim beschwerlichen Gang über die Straße - doch gestern Abend war es plötzlich der alte Mann, der die Borussia wieder auf den richtigen Weg führte und ihr half, ihren Weg nach Berlin fortsetzen zu können.
Und die Bezeichnung „alter Mann“ ist in diesem Kontext keinesfalls despektierlich gemeint. Obwohl der 35-Jährige erst in der 62. Minute eingewechselt wurde, unterstrich der Routinier nicht nur aufgrund des unfassbaren Tores in der 107. Minute die Wichtigkeit für die Mannschaft. Und je näher der Tag rückt, desto deutlicher wird: Am 23. Mai, bevor das letzte Saisonspiel gegen Werder Bremen im Westfalenstadion angepfiffen wird, findet wieder einer dieser hochemotionalen Abschiede statt, so wie 2002 bei Jürgen Kohler oder 2011 bei Dede. Bis dahin sind es nur noch knapp sechseinhalb Wochen - vielleicht ja sogar siebeneinhalb bis zum endgültigen Abschied, wenn dem BVB der Einzug in das Pokalfinale gelingen sollte. Und mit dem 3:2 nach Verlängerung gestern Abend gegen 1899 Hoffenheim ist der Borussia ein weiterer großer Schritt in diese Richtung gelungen.
Taktik
Der Gästetrainer Markus Gisdol formierte seine Elf in einem 4-4-2-System mit Mittelfeldraute. Pirmin Schwegler spielte dabei auf der Sechs, Eugen Polanski und Sebastian Rudy besetzten die Halbpositionen und die offensive Rautenspitze bildete Firmino hinter dem Zweiersturm aus Sven Schipplock und Kevin Volland.
Borussen-Trainer Jürgen Klopp musste kurzfristig auf Mats Hummels (Oberschenkel-Blessur) und Marco Reus (Adduktoren-Probleme) verzichten. Der Coach schickte seine Mannschaft mit einer 4-2-3-1-Grundformation auf den Rasen. Im Tor vertraute Klopp wie so oft im Pokal auf Mitch Langerak. Die Viererkette bildeten Marcel Schmelzer (links) und Erik Durm (rechts) auf den Außenbahnen sowie zentral Sokratis und Neven Subotic. Ilkay Gündogan und Sven Bender besetzten die Doppel-Sechs hinter der Dreierreihe Henrikh Mkhitaryan (links), Shinji Kagawa (zentral) und Jakub Blaszczykowski (rechts). Pierre-Emerick Aubameyang agierte als Sturmspitze.
Vor dem Spiel
Jaja, die lieben Traditionsvereine. Es ist doch immer wieder schön, gerade bei Spielen unter der Woche, wenn da ein ruhmreicher Verein zu Gast im Westfalenstadion ist, der mit seinem reisefreudigen Anhang die Gästeblöcke hinter dem Tor auf der Nordtribüne füllt. Nun ja, davon waren wir am Dienstagabend meilenweit entfernt. Der Zuchtverein schaffte gerade eine so große Mobilisierung für ein Pokal-Viertelfinale, dass es mit viel Wohlwollen dazu reichte, die Nord-Ost-Ecke zu füllen. Die etatmäßigen Gästeblöcke 60 und 61 wurden hingegen ebenfalls für Schwatzgelbe geöffnet, was immerhin während des Spiels den einen oder anderen interessanten „BVB“-Wechselgesang ermöglichte.
Überhaupt die Stimmung: Gerade im Vergleich zum gehypten „deutschen Clasico“ drei Abende zuvor gegen die Bayern spürte man gegen Hoffenheim von Anfang an die besondere Atmosphäre. Die Südtribüne bebte und das Westfalenstadion kam auch über weite Strecken des Spiels endlich mal wieder ihrem Ruf als „Hölle“ näher. Es wäre zu wünschen, dass diese Atmosphäre mal nicht nur bei (vermeintlich) besonderen Spielen herrscht, sondern auch im Liga-Alltag demnächst gegen Paderborn und Frankfurt.
Im Epizentrum der guten Stimmung in den Blöcken 12 und 13 begrüßte THE UNITY die Gäste vor dem Anpfiff mit dem Banner: „Hoffenheim rausschmeißen - Aus dem Pokal, aus der Liga, aus dem Fußball!“ Nicht erst seit ich auf der Tribüne wenige Reihen hinter mir einen Hoffenheimer im Trikot mit der Rückenaufschrift „Ein Team, ein Ziel, Berlin 2015“ erblickte, konnte ich mich diesem Wunsch TUs bedingungslos anschließen.
Erste Hälfte
Der BVB nahm zu Beginn des Spiels das Heft des Handelns direkt in die Hand. Mkhitaryans Dropkick aus der zweiten Reihe konnte 1899-Schlussmann Oliver Baumann aber sicher parieren (9.). Bei der nächsten guten Chance zappelte die Kugel auch direkt im Netz. Eine Blaszczykowski-Ecke von der rechten Seite nahm Neven Subotic direkt - und traf (19.).
Doch die kollektive schwatzgelbe Freude währte nur kurz. Quasi im Gegenzug kamen die Kraichgauer mit einer Kopie des Dortmunder Tores zum postwendenden Ausgleich. Rudys Ecke, ebenfalls von der rechten Seite, jagte Volland in die Maschen (21.). Doch es kam noch schlimmer: Nach einem Aussetzer von Neven Subotic stürmte Firmino frei auf das Tor zu und brachte die Gäste mit einem Heber über den chancenlosen Langerak mit 1:2 in Führung (28.).
Der BVB wirkte beeindruckt, kurzzeitig litt auch die Stimmung unter diesem Rückschlag. Kagawa bediente Aubameyang, doch der Gabuner schoss am langen Eck vorbei (37.). Eine Kombination über Blaszczykowski und Kagawa vor das Hoffenheimer Tor brachte ebenfalls keinen Ertrag (39.), sodass es mit einem Rückstand in die Kabinen ging. Einige Pfiffe hallten durch das Westfalenstadion.
Zweite Hälfte
Die viertelstündige Pause schienen aber sowohl die Mannschaft als auch die Tribünen genutzt zu haben, um noch einmal Kraft zu tanken. Den Schwatzgelben schallte ein geschlossener Support von der Südtribüne entgegen und die Spieler bedankten sich, indem sie sofort die Kontrolle über das Spiel übernahmen. Und so kam Aubameyang nach Zuspiel von Durm zum Schuss, der Ball strich jedoch am langen Eck vorbei (48.). Keine zwei Minuten später tauchte Gündogan nach einem Doppelpass mit Kagawa im Strafraum auf, doch abermals konnte Baumann parieren (50.). Folgerichtig fiel das erlösende 2:2. Bei einer Flanke von Durm von rechts ließ Hoffenheims Strobl Aubameyang sträflich allein, sodass dieser zum Ausgleich einköpfen konnte (57.). Der Führungstreffer lag in der Folge in der Luft, doch zahlreiche Chancen blieben ungenutzt, wie etwa durch Aubameyang (61.) und Subotic (78.).
Doch so nahe der BVB dem Weiterkommen hier auch war, so brenzlig wurde es in den Schlussminuten. Nach einem Konter über Volland und Firmino tauchte Polanski blank vor dem Tor auf, doch Langerak behielt die Nerven (84.). Keine Minute später steckte Beck durch auf Firmino, der das Tor jedoch verfehlte (85.).
Kehls Hammer lässt das Stadion explodieren
Es ging also in die Verlängerung. Hier verzog Mkhitaryan nach einem langen Ball von Subotic vollkommen (98.). Und dann kam er, der erlösende Augenblick und der große Auftritt des Kapitäns a.D., Sebastian Kehl. Eine Flanke von der rechten Seite prallte von Kevin Kampl ab und aus dem Rückraum nahm Kehl den Ball mit vollem Risiko per Dropkick - die Kugel touchierte noch den Pfosten und schlug rechts unten im Hoffenheimer Tor vor der Südtribüne ein. Das Stadion explodierte. Mit Routine brachte der BVB das Resultat nun über die Runden, auch wenn es in den allerletzten Momenten noch etwas brenzlig wurde. Allerdings vergab Kampl zuvor auch aus allerkürzester Entfernung blankstehend das entscheidende 4:2 (111.).
Statistik
BVB (4-2-3-1): Langerak - Schmelzer, Sokratis, Subotic, Durm - Gündogan, Bender (62. Kehl) - Mkhitaryan (101. Kampl), Kagawa, Blaszczykowski, Aubameyang (113. Ramos).
Traditionsverein von 1899 aus dem Kraichgau (4-4-2): Baumann - Toljan (60. Kim), Bicakcic, Strobl, Beck - Schwegler (60. Amiri) - Polanski, Rudy - Firmino - Schipplock (101. Zuber), Volland.
Tore: 1:0 Subotic (19.), 1:1 Volland (21.), 1:2 Firmino (28.), 2:2 Aubameyang (57.), 3:2 Kehl (107.). Schiedsrichter: Deniz Aytekin. Zuschauer: 80.667 (ausverkauft). Gelbe Karten: Blaszczykowski (112.), Kehl (117.) - Schipplock (53.), Schwegler (55.), Volland (89.), Firmino (90.+2), Bicakcic (112.).
Noten:
Mitch Langerak: An den Toren schuldlos, ansonsten weitgehend beschäftigungslos, stark aber gegen Polanksi (84.). Note 2-.
Neven Subotic: Treffer zum 1:0, Aussetzer beim 1:2. Ansonsten defensiv solide, Kopfballchance zum 3:2 (78.). Note 3-.
Sebastian Kehl: Nach einer Stunde eingewechselt, strahlte Ruhe aus und bereinigte nach seinen Möglichkeiten alles im Mittelfeld. Sahnetreffer zum Sieg. Note 1.
Sven Bender: Keine groben Schnitzer, wich nach einer Stunde für Kehl. Note 3-.
Shinji Kagawa: Schien lange Zeit richtig Lust zu haben und quirlte in der Offensive. Note 3+.
Ilkay Gündogan: Ein starker Pass auf Schmelzer (83.). Licht und Schatten im Spiel. Note 3-.
Henrikh Mkhitaryan: Dribbelte sich ein ums andere Mal fest, Fortuna war ihm nicht hold. Note 4-.
Jakub Blaszczykowski: Bärenstarker Beginn auf der rechten Seite, Vorarbeit zum 1:0. Ein Spiel auf dem Weg zur alten Bestform. Note 2-.
Pierre-Emerick Aubameyang: Rieb sich vorne auf und belohnte sich mit dem 2:2. Note 2.
Sokratis: Kompromisslos am und im eigenen 16er, auch unter Bedrängnis. Note 2.
Marcel Schmelzer: Defensiv kaum gefordert, unternahm er manch einen Vorstoß nach vorne. Note 3-.
Erik Durm: Wirkte auf der Außenbahn agiler als Schmelzer. Note 3.
Kevin Kampl und Adrian Ramos ohne Note.
Stimmen zum Spiel
Markus Gisdol (1899): „Insgesamt war es ein sehr würdiges Pokal-Viertelfinale, beide Mannschaften haben sich nichts geschenkt. Wir haben eine tolle erste Halbzeit gespielt, nach der Pause kam Dortmund aber mit Wucht. Nach dem 2:2 haben wir aber Kontrolle in das Spiel gebracht und hatten zwei glänzende Chancen. Dass man dann durch einen Sonntagsschuss verliert, ist natürlich bitter. Beide Mannschaften hätten das Weiterkommen verdient.“
Jürgen Klopp (BVB): „Die erste Hälfte war nicht so schlecht. Das Hoffenheimer 1:1 war eine tolle Ecken-Variante, den Ball mit hohem Risiko zu nehmen, klasse. Das zweite Tor war geschenkt. Die Reaktion nach der Pause war aber sehr stark. Wir hatten unsere Möglichkeiten und wenn Kampl das 4:2 macht, dann ist das Ding gegessen. Ich bin mit der Mannschaft superzufrieden, der Sieg tut uns auch gut. Es war körperlich sehr anstrengend und die Jungs müssen jetzt sehr gut regenerieren. Aber heute ist ein sehr guter Tag für alle BVB-Fans.“
Daniel Mertens, 08.03+1.2015