„Ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit“ – Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz
Leere. Da, wo die Worte sonst normalerweise von alleine sprudeln, weiß ich jetzt nicht, wie ich anfangen soll, was ich schreiben will, wie ich das Unbegreifliche und das doch Geschehene beschreiben soll. Welche Worte sind die richtigen? Wo sind die Worte überhaupt? Wieder betrachte ich die Bilder, doch das Grauen, das Leid, die Menschenverachtung, die auf ihnen zum Ausdruck kommt, lösen nur zweierlei aus: Trauer. Trauer und Wut, bisweilen sogar regelrechter Hass. Alles keine guten Begleiter, um einen Text zu verfassen. Was also tun? Und wieder gebe ich auf, schaue mir die Bilder an.
Noch heute, rund drei Wochen nach der Rückkehr, wirken die Impressionen aus Auschwitz nach. Ich war dabei, bei der mittlerweile fünften Gedenkstättenfahrt, die der BVB regelmäßig gemeinsam mit dem Fan-Projekt sowie der Fan- und Förderabteilung nach Auschwitz durchführt. Vom 17. bis 23. Juli besuchten wir als rund 30-köpfige Reisegruppe das Sinnbild der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft, das Synonym für den Holocaust, den Ort des Schreckens: Auschwitz. Schon das Wort lässt einen erschaudern; fast schon ein wenig beruhigend klingt dagegen der heutige polnische Name der Stadt, Oświęcim. Irgendwie unschuldig.
Erwartung an die Reise: Den Ort erleben
Als ich den Koffer für die Reise packte, da hatte ich mich mir zugleich auch die eine oder andere Erwartung zurechtgelegt. Auschwitz. Wie oft hat man dazu schon etwas gelesen, gehört und gesehen. In der Schule, regelmäßig im Fernsehen, im Radio, in Zeitungen. Auschwitz ist allgegenwärtig - und doch irgendwie nicht greifbar. Genau das war meine Motivation für die Reise: Ich wollte den Ort selbst erleben, ihn spüren. Was würde er mit mir machen? Wie reagiert man gerade als Deutscher (und nein, ich bin da wahrlich nicht stolz darauf) auf einen Ort, an dem die eigenen Vorfahren so unendlich viel Leid über die Menschheit gebracht haben? Wie fällt die Reaktion aus an einem Ort, an dem über 1.000.000(!) Menschen ihr Leben lassen mussten? Ein erstes Gespür dafür, was mich dort erwarten würde, bot mir im Januar der Dokumentarfilm „Night Will Fall“ von Alfred Hitchcock, der sich aus der breiten Masse an NS-Dokus wirklich hervortat. Die darin zu sehenden Sequenzen lösten Trauer, Verzweiflung und Wut aus. Ich saß vor dem Fernseher und hätte am liebsten laut losgeheult, angetrieben von der Verzweiflung, was dieses Deutschland für entsetzliches Leid über Europa und die Welt gebracht hat. Ich möchte jedem diese Doku ans Herz legen – doch Vorsicht, sie ist nichts für schwache Nerven.
Aber zurück zur Fahrt. Der Kontrast zu Beginn hätte kaum größer sein können: Von einem kurzen Aufenthalt auf der 15-Jahres-Feier von schwatzgelb.de ging es am Freitagabend in den Bus Richtung Polen. Am Samstagmittag die Ankunft in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Auschwitz. Ein erstes Kennenlernen vor Ort und eine erste kurze Einarbeitung in die Thematik nach der langen Busfahrt. Am Sonntagvormittag schließlich ein kleiner Stadtrundgang für ein erstes Gespür für diesen besonderen, diesen historischen Ort, verbunden auch mit einem Besuch des jüdischen Friedhofes. Es stimmt traurig, dass just in dieser Stadt der jüdische Friedhof – vermutlich insbesondere mangels einer aktiven Gemeinde vor Ort – nicht gepflegt wird und über die Jahre verwildert.
Wie kann ein Mensch in der Lage für solche Grausamkeiten sein?
Im Anschluss folgte eine Führung durch das Stammlager Auschwitz I. „Arbeit macht frei“ - ein beklemmendes Gefühl macht sich breit, wenn man diesen menschenverachtenden Zynismus am Eingangstor durchschreitet und das Lager betritt. Das Thermometer zeigt über 30 Grad, doch je länger ich mich an diesem Ort aufhalte, desto weniger spüre ich die Hitze. Im Gegenteil, es macht sich eine innere Kälte breit. Insbesondere die Räume, in denen die persönlichen Besitztümer der Häftlinge für die Ausstellung aufbereitet wurden – Koffer mit den Adressen der Besitzer, Bürsten, Rasierer und Pinsel der Häftlinge, zerbrochene Spielpuppen von kleinen Kindern – schnüren einem die Kehle zu. Die Schuhe der Häftlinge, die sich in einem anderen Raum bis zur Decke auftürmen und insbesondere die abgeschnittenen Haare der Häftlinge ziehen mir endgültig den Boden unter den Füßen weg. Trauer und Entsetzen machen sich breit. Wie können Menschen fähig sein, anderen Menschen derartiges Leid im Namen einer völlig wirren Ideologie anzutun? Und dann, nach einigen Minuten, kommen plötzlich zwei andere Gefühle in mir hoch: Wut und Hass. Ich besinne mich an diesem Ort darauf, dass ich aus Dortmund komme, einer Stadt mit einer hochaggressiven Nazi-Szene, die über einen Sitz im Stadtrat verfügt - heute, 70 Jahre nach Auschwitz, gewählt von – wenn auch einem verschwindend geringen Teil – der Dortmunder Bürger. Sie haben einen Menschen in den Stadtrat gewählt, der in der ideologischen Nachfolge des Hitlerschen Nationalsozialismus steht, der zusammen mit seinen „Kameraden“ das denkt und glaubt, was Auschwitz erst ermöglicht hat. Das darf nicht sein.
Eines wird mir dadurch schlagartig klar: Man muss diesem Gedankengut noch viel mehr und entschlossener entgegentreten, es bekämpfen und Aufklärungsarbeit leisten, es darf nicht sein, dass eine derartige, Tod bringende Ideologie heutzutage auch nur einen einzigen Anhänger findet. Diese Maxime verfestigt sich weiter bei dem Besuch der zahlreichen sogenannten „Länderausstellungen“, in denen die Durchführung des Holocaust in den verschiedenen europäischen Ländern thematisiert wird. Besonders grausam ist dabei ein Besuch der israelischen Ausstellung, in der man nicht fassen kann, was man dort sieht.
Am Ort, an dem Millionen Menschen ermordet wurden, rascheln heute die Blätter still im Wind
Am Montag schloss sich vormittags ein weiterer kurzer Workshop rund um das Thema Sport und Fußball im Konzentrationslager an. Ein Bestandteil dessen war auch der Film „Liga Terezin“ von Oded Breda über Fußball im Ghetto Theresienstadt. Mit dem Besuch im Vernichtungslager Birkenau stand der emotionale Tiefpunkt der Gedenkstättenfahrt an. Die Reise an jenen Ort, an dem die Deutschen – vom Wahnsinn des rassistischen Denkens getrieben – über eine Million Menschen ermordeten. Die erhaltenen Baracken, die Ruinen der Krematorien, das „berühmte“ Eingangstor mit den Gleisen – wieder vergesse ich die Hitze um mich herum. Ich versuche mir vorzustellen, wie an diesem Ort, an dem sich heute unzählige Touristengruppen aufhalten wie vor dem Kölner Dom oder dem Münchener Marienplatz, damals die Menschen unendliche Qualen durchlitten, wie sie von ihren Wärtern malträtiert und ermordet wurden. Ich versuche mir vorzustellen, wie in diesem heute so idyllisch wirkenden Wald am Rande des Lagers die Menschen vor dem Krematorium auf ihren grausamen Tod warten mussten. Ich versuche mir die angsterfüllten Schreie vorzustellen und die peitschenden Kommandos der NS-Verbrecher. Und heute rascheln an diesem stillen Ort die Blätter im Wind. Es sind surreale Minuten, Stunden.
Plötzlich stehen wir an einem Tümpel, in dem die Nazis die Asche der verbrannten Menschen verstreuten.
„To the memory of the men, women, and children who fell victim to the Nazi genocide. In this pond lie their ashes. May their souls rest in peace.”
Das ist die Inschrift auf einem Gedenkstein, man muss ihn wohl eher Grabstein nennen, so zynisch es auch klingen mag. Zum Abschluss stehen wir Minuten später an dem offiziellen Mahnmal innerhalb des Lagers Birkenau, in dem die Gedenktafeln in mehreren Sprachen verfasst sind.
„Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit. Hier ermordeten die Nazis etwa anderthalb Millionen Männer, Frauen und Kinder. Die meisten waren Juden aus verschiedenen Ländern Europas. Auschwitz-Birkenau 1940-1945.“
Das ist die Inschrift auf der deutschsprachigen Tafel. Es sind die emotionalsten Minuten der gesamten Reise. Die Eindrücke der gesamten Tage entladen sich an dieser Stelle. Und wieder spüre ich Wut in mir aufsteigen. Wie kann man diesem Gedankengut heutzutage anhängen? Die gesamte schwarzgelbe Anhängerschaft, die ganze Stadt sind aufgefordert, sich dieser Ideologie entschlossen in den Weg zu stellen. Es ist ebendiese Entschlossenheit, die letztlich das stärkste Gefühl darstellt, das ich von dieser Reise mit nach Hause nehmen werde.
Gedenkstättenfahrt ein wichtiger Teil der Antirassismus-Arbeit des BVB
Der Verein BVB ist sich seiner diesbezüglichen Verantwortung als d a s Aushängeschild der Stadt bewusst und leistet unter anderem mit den Gedenkstättenfahrten – neben jenen nach Auschwitz gibt es ebenfalls regelmäßige Fahrten nach Lublin – einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Sehr erfreulich ist es zudem, dass sich mit THE UNITY und den JUBOS die beiden einflussreichsten Gruppierungen der Südtribüne dem Kampf gegen rechtsextremistische Umtriebe rund um den Verein verschrieben haben. Toleranz und Mitmenschlichkeit sind Werte, für die Borussia Dortmund steht. Borussia verbindet Generationen, Männer und Frauen, alle Nationen.
Ein Besuch in dem heute weitgehend verschwundenen „Industrie-KZ“ Monowitz und ein zweiter Besuch im Stammlager Auschwitz bildeten die Schlusspunkte einer intensiven und dadurch umso aufschlussreicheren Fahrt nach Auschwitz, bei der die Besuche in den drei Konzentrations- und Vernichtungslagern vorab jeweils mittels Workshop gut vorbereitet wurden. Ich kann die Reise in allen Belangen weiterempfehlen – gerade auch für die Fans eines Vereins und aus einer Stadt, welcher überregional mitunter immer noch ein sehr anrüchiger Ruf anhaftet. Sorgen wir dafür, dass die Stadt diesen braunen Makel los wird.
KICK RACISM OUT!
Samuel Woiczyk, 12.08.2015