15 Jahre schwatzgelb.de - Das zerbrochene Glück
In diesem Juli jährt sich der Tag, an dem zwei Borussen bei einem Testspiel auf die Idee kamen, aktuelle BVB-Berichterstattung von Fans für Fans im Internet anzubieten: schwatzgelb.de wird 15 Jahre alt. Wir nehmen das als Anlass, euch jeden Tag eine Perle aus der Geschichte unseres Fanzines zu präsentieren und so auf kleine Highlights unserer Geschichte zurückzublicken. Heute: Unser Artikel aus dem Jahr 2004 über eine "kaputte Tasse".
Vor ein paar Tagen ist es passiert. Eine Tasse ist mir zerbrochen. Sie fiel vor meinen Augen zu Boden und zerbarst in viele Teile. Ich habe es kommen sehen und konnte es nicht aufhalten. Was ist schon dabei, wirst Du denken... es war doch nur eine Tasse! Es gibt Millionen Tassen auf der ganzen Welt und ich-weiss-nicht-wie-viele-davon gehen jeden Tag zu Bruch. Nur wenige nehmen überhaupt Notiz davon, die meisten stört es nicht einmal. Was soll also das Theater um eine einfache Tasse?Um eine einfache Tasse? Es war eben nicht nur irgendeine Tasse, die man nach Belieben austauschen oder durch eine andere ersetzen kann. Es war eine besondere Tasse - meine Lieblingstasse!
Wenn ich Dir die Geschichte meiner Tasse erzähle, wirst Du wissen, warum es mich so traurig macht, sie zerbrochen am Boden liegen zu sehen.
Es begann vor ungefähr vier Jahren: Ich sah diese Tasse - nennen wir sie Borussia Dortmund - in einem Regal mit vielen anderen Tassen in einem Laden. Ich hatte eigentlich gar nicht vor, mir eine Tasse zu kaufen. Doch irgendetwas fiel mir sofort ins Auge und fesselte meine Aufmerksamkeit.
Strahlend gelb leuchtete SIE wie ein Stern zwischen den anderen Tassen hervor. Oder lag es an dem rätselhaften schwarzen Muster aus Buchstaben und Zahlen, dass ich sie in die Hand nahm? Ich weiß nicht mehr was es war, aber irgendetwas brachte mich dazu, sie ausführlicher zu betrachten. Sie glich so gar nicht den anderen roten, grünen oder blauen Tassen im Regal. Ich strich mit dem Daumen über das Muster und sah, dass ihr Gelb an einigen Stellen schon etwas verblasst war und die Lackierung leichte Kratzer hatte. Aber das störte mich nicht.
"Was willst Du denn mit der," fragten mich Freunde, "die ist doch schon ganz angeschlagen. Nimm lieber eine von diesen!"
Sie zeigten mir die roten, die ganz in unserer Nachbarschaft hergestellt wurden, die königsblauen, die bei einem Freund schon seit langem zuhause im Schrank standen und die weiss-blau-karierten mit dem roten Rand, die größer und besser verarbeitet waren als alle anderen und von Nordösterreich aus ganz Deutschland überschwemmten. Doch keine von denen konnte mein Herz erobern, ich wollte immer nur die eine - die Schwarzgelbe.
Seither lebe ich mit dieser Tasse und ich habe es nicht eine Sekunde lang bereut. Viele kostbare Momente hat sie mir in den vergangenen Jahren geschenkt und ebenso viele Erfahrungen, die ich nicht missen möchte. Einige davon durfte ich machen, andere musste ich machen.
Ich habe Menschen kennen gelernt, die mit mir ein Stück des schwarzgelben Weges gegangen sind und Menschen, die zu treuen Freunden und Begleitern wurden. Ich habe Reisen unternommen und stundenlange Gespräche geführt, für die es ohne die Liebe zu meiner Tasse keinen Anlaß gegeben hätte. Ich bin durch Meere, ja ganze Ozeane von Gefühlen geschwommen und das in 90 Minuten-Etappen. Ich habe gebangt, gehofft, geliebt, gezittert, gebetet, geflucht, verwünscht und manchmal sogar gehasst...
Es sind diese lebendigen Erinnerungen, die mich Tag für Tag, Spieltag für Spieltag, immer enger an meine Tasse binden. Erinnerungen, von denen Javier Marias einmal schrieb, sie seien wie auf der Netzhaut eingebrannte Bilder aus der Vergangenheit. Bilder von entscheidenden Toren, Duellen um den Ball, von Heldentaten, aufsehenerregenden Schiedsrichterentscheidungen, von wichtigen Siegen und demütigenden Niederlagen. Nichts von alledem würde ich jemals eintauschen oder ersetzen wollen!
Vielleicht verstehst du jetzt besser, was diese Tasse für mich so besonders macht und mich um ihren Zustand trauern lässt.
Ich schaue auf das Kunstwerk aus Scherben zu meinen Füßen und kann noch gar nicht begreifen, wie es geschehen konnte. Was vor wenigen Minuten noch ganz stabil, stark und heil erschien, ist wie eine Seifenblase zerplatzt. Dort unten auf dem Boden liegt mein BVB, zerbrochen, aufgespalten in seine Einzelteilen. Ich sehe Männer in Nadelstreifen, hochbezahlte und verunsicherte Sportler, aber keine Mannschaft, Vereinsmitglieder, die sich nicht gesehen fühlen und dazu Fans, die sich untereinander nicht verstehen - alles einzelne Splitter eines ehemals großen Ganzen.
Ich fühle mich allein. Eine innerliche Leere breitet sich in mir aus und lässt mich hart schlucken. Ja, es war vorauszusehen. Ich wollte es nur lange nicht sehen! Andererseits, wäre es überhaupt zu vermeiden gewesen? Ihr Ansehen hatte in der letzten Zeit merklich gelitten, die Kratzer von damals hatten sich in kleine Risse verwandelt und mit jedem Riss war sie instabiler geworden, auch wenn man es ihr auf den ersten Blick nicht gleich ansah. Eine winzige ungeschickte Handbewegung hatte gereicht, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen und stürzen zu lassen.
Immer noch ohnmächtig stehe ich vor dem Scherbenhaufen. Ich hatte mein Bestes gegeben, um es nicht dazu kommen zu lassen - sorgsam wie einen Schatz hatte ich sie gehütet, umsichtig und aufmerksam war ich im Umgang mit ihr gewesen. Es hatte einfach nicht gereicht! Ich merke Wut in mir aufsteigen, die ihre Kraft aus meiner Ohnmacht zieht und mich hinterrücks mit ihren anklagenden Fragen überfällt: Wieso hat es nicht gereicht? Was ist schiefgelaufen? Wer trägt Schuld an der ganzen Misere?
Schließlich "muss" doch jemand Schuld sein! Jemand muss die Verantwortung für diese Katastrophe übernehmen! Doch wo suchen? Liegt der Fehler bei der Vereinsführung, weil sie in der Vergangenheit zu risikobereit gewirtschaftet hat? Sind die Spieler schuld, weil sie immer wieder wichtige Spiele nicht gewinnen oder weil sie überwiegend zwar gute Einzelspieler sind, aber nicht als Team auftreten? Liegt es etwa an den Fans, die sehr kritisch sind und die Mannschaft zuhause schnell unter Druck setzen, so dass sie Angst hat und nicht frei aufspielt? Oder haben sich die verschiedenen Faninteressen so weit voneinander entfernt, dass eine geschlossene Unterstützung der Mannschaft gar nicht mehr möglich ist?
Die Bruchstücke auf dem Boden antworten nicht auf meine Fragen. Ich merke schnell, dass es keinen Sinn hat, an irgendeiner Stelle die alleinige Schuld für den Zusammenbruch des Ganzen zu suchen. Es gibt zu viele Wahrheiten und jeder kennt eine andere. Es ermüdet mich, darüber zu streiten! Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer und ein Tor noch kein Unentschieden. Nein, es war die Vielzahl der Risse und kleinen Brüche, die zur endgültigen Instabilität geführt haben. Es war ein Riß, ein Bruch zuviel...
Behutsam sammle ich die Scherben auf und lege sie vor mir auf den Tisch. Die Wut schwindet, doch unter der Wut liegt die Trauer verborgen. Was fange ich nun an mit meinem zerbrochenen Glück?
In einem leichten Anflug von Melancholie schwelge ich wieder in den Glückseligkeiten vergangener Tage und frage mich ängstlich, was wohl die Zukunft für uns bereithält. Werden wir irgendwann wieder einmal so ausgelassen feiern können wie 2002 im Mai oder ereilt uns das gleiche Schicksal wie andere Vereine vor uns, die irgendwann einmal im Niemandsland deutscher Spielklassen verschwanden? Wo spielen heute eigentlich die Stuttgarter Kickers, Fortuna Düsseldorf oder Waldhof Mannheim?
Doch letztlich fühle ich, dass es gar nicht so sehr darauf ankommt, wann wir uns wo in welcher Spielklasse wiederfinden. Ich würde es sowieso nicht über's Herz bringen, meine geliebte schwarzgelbe Tasse mit all den daran geknüpften Erinnerungen, Hoffnungen und Werten in die Ecke zu stellen, um mir dafür irgendeine andere, vielleicht neuere oder schönere, aus dem Schrank zu holen.
Ich könnte sie kleben, denke ich bei mir und halte die einzelnen Bruchstücke probeweise zusammen. Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert!
Aber kann es gelingen, sie wieder in ihre ursprüngliche Form zu bringen? Besorgt frage ich mich, ob die Bruchstücke überhaupt wieder auf Dauer zusammenhalten können oder ob sie bei der nächsten Belastung gleich wieder auseinanderbrechen? Ich weiß zwar, sie wird nie wieder ganz die Tasse sein, die ich einmal gekannt habe, aber wird mir der Tee daraus immer noch genauso gut schmecken wie früher oder bleibt ein bitterer Beigeschmack zurück?
Du merkst es schon: Ich kenne in diesen Tagen mehr Fragen als Antworten.
Das ist es auch, was mich derzeit oft ein wenig mut- und ratlos sein lässt. Doch auf eine, vielleicht sogar die wichtigste aller Fragen, kann ich dir eine Antwort geben.
Lohnt es sich?
Ich sehe deinen fragenden Blick, während du diese Worte aussprichst und muss lächeln. Leise fange ich an, eine Melodie zu summen...
"Solange die Erde sich dreht, solange der Traum nie vergeht, solang' das Feuer in uns brennt und schwarz-gelb ein jeder kennt, ja solange und für immer BVB!!!"
Geschrieben von Ramona