Europapokalrekord im Abstiegskampf
Der BVB gewinnt locker mit 4:1 gegen Galatasaray Istanbul und steuert in der Champions League auf einen ungefährdeten Gruppensieg zu. Gleichzeitig befindet sich die Mannschaft in der Bundesliga mitten im Abstiegskampf. Wie kriegt man diese widerstreitenden Welten unter einen Hut? Eine Nabelschau im Ausnahmezustand.
Wohl noch nie bin ich mit einem derart schlechten Gefühl zu einem Europapokalspiel des BVB gegangen. Und nicht etwa, weil ich Angst vor einer Niederlage hatte. Es war die klassische Lose-Lose-Situation. Wenn die Mannschaft spielt wie in der Bundesliga, dann muss ich mich aufregen, muss ich durchdrehen vor Wut. Und wenn die Jungs gut spielen, dann muss ich mich aufregen, weil wir in der Liga auf einem Abstiegsplatz stehen und uns nur unter der Woche um 20:45 Uhr konzentrieren können. Inzwischen bin ich ja schon davon überzeugt, dass der BVB statt You’ll never walk alone oder Heja BVB auch in der Bundesliga vor Anpfiff mal besser die Hymne einspielen sollte, die den Spielern vermittelt, dass sie die Besten sind, die Champions, les meilleures usw. Denn anscheinend brauchen die Spieler diese kurze Erinnerung daran, dass sie zu den Champions und nicht zu den Abstiegskandidaten gehören, um das wahre Leistungsvermögen dieser Mannschaft zu Tage bzw. Nacht zu fördern. Die schicken Trikots wurden gegen Hannover schon erfolglos probiert, also muss es doch diese verdammte Hymne sein. Ich weigere mich jedenfalls in den Chor all jener einzustimmen, die Anderlecht und Istanbul für schlechter als Stuttgart, Hamburg oder Hannover darstellen wollen.
Na egal so saß ich also mal wieder hier auf der Ost und schaute in die Lichter der Smartphones, die diesen magischen Moment einfangen wollten, wenn die Folie geschüttelt wird und die Hymne ertönt. Wie gesagt, kein Bock auf gar nichts, es kann nur Scheiße werden und Jürgen Röber hat wenigstens die Bayern besiegt. Die Magie will nicht überspringen auf mich. Bin ich satt? Ist die Mannschaft satt? Beim Einlaufen werden Differenzen im Team deutlich. Die Defensive hat die Ärmel hochgekrempelt und die Offensive macht im Langarmshirt auf Winter. Die Türken wechseln die Seiten und die Süd pfeift. Ich sitze immer noch da und ertrage es mehr als alles andere.
Die Gästefans beschmeißen sich gegenseitig mit Böllern und dementsprechend meldet sich gleich auch Hartmut Salmen zu Wort und spricht mahnende Worte. Die Übersetzung ins Türkische hätte man sich vielleicht auch sparen können, denn neben den Cim-Bom-Bom Gesängen waren auch immer wieder deutsche Wortfetzen zu hören, als man sich vor Spielbeginn durch die Massen in Orange-Rot gekämpft hat. Aber eins macht die Süd gleich von Anfang an klar: Ein Auswärtsspiel wie 2000 Wird es heute Abend hier nicht geben. Man kann uns ans Ende der Tabelle verfrachten, aber wir sind immer noch laut. Zündet der Funke bei mir? Nicht wirklich. Zu tief sitzt der Frust.
In mir kommt die Erinnerung hoch an den Freudenrausch, den die Qualifikation für den UEFA-Cup 2010 Verursacht hat. Es war glasklar, dass ich nach Lemberg wollte und nach Paris. Geht es der Mannschaft vielleicht ähnlich? Ist die Gier weg? Und das äußert sich nicht in den Spielen gegen Galatasaray, Arsenal oder Anderlecht, sondern gegen Stuttgart, Hannover oder Hamburg? Jedenfalls war es für mich diese Saison keine Frage, ob ich eine europäische Auswärtsfahrt buchen würde. Die Arbeit, das Private, alles war wichtiger in dieser Saison.
Die ersten 10 Minuten gingen ins Land und der BVB spielte überlegen. Mich packte mehr und mehr die Wut. Was soll das? Warum klappt das nicht gegen die Graupentruppen aus dem Hinterland der Tabelle oder im Derby? Warum lässt man sich in solchen Spielen in schöner Regelmäßigkeit abschlachten und gegen Galatasaray, die sicher nicht schlechter sind als der HSV, sieht es plötzlich souverän aus? Warum bekommt heute auch der Weltmeister wider Willen Erik Durm plötzlich wieder Bälle zum Mitspieler, wirkt die Innenverteidigung mit Subotic und Sokratis nicht mehr derart hölzern?
Liegt es wirklich nur daran, dass die Türken nach Subotic‘ ersten schlimmen Fehlpass nicht so wirklich konsequent zu Werke gehen, sondern einen schön anzuschauenden, aber letztlich harmlosen Fallrückzieher ansetzen? Als auch der gefühlte Superstar Reus, der in den letzten Wochen ganz allein mit seinem Wechseltheater die Schlagzeilen vom Abstiegskampf weglenken konnte, einen furchtbaren Fehlpass spielte, wachte erstmals auch der Gästeblock auf und schrie im Stakkato irgendwas mit „Cim-Bom-Bom“. Aber auch jetzt konnte ihre Mannschaft nicht liefern.
Dann drückte wieder der BVB und der Tempel versuchte, seine Magie zu entfalten „Allez Borussia BVB“, aber ich saß immer noch viel zu unberührt auf meinem Platz und dachte weiter voller Furcht an Gladbach.
Dann spielte der Mann, der nicht mehr auf seinen Lambo und seine tollen Haarkreationen reduziert werden möchte und angeblich seinem sterbenden Opa versprochen hat, sich künftig ganz doll auf den Job zu konzentrieren, einen furchtbaren Lupferpass und die Galle stieg mir schon wieder den Hals rauf. Hat der BVB mit seinen teuren Einkäufen aus dem Ausland seine Seele preisgegeben? Wo sind die Jungs, die für Klopp brennen? Kann es sein, dass die Einstellung fehlt, wenn man im Interview von einem 7:0 in der CL träumt, während man in der Bundesliga Vorletzter ist? Dann plötzlich Latte. Latte! Aber trotzdem blieb ich sitzen. Arsenal führte 1:0, wen juckt’s, wenn es doch eigentlich nur um die Niederrheinbauern geht?
Mein Leben Dir vermacht – jeden Tag und jede Nacht. Für wen von den Schwarzgelben auf dem Rasen gilt das überhaupt noch, wenn der vorletzte verbliebene Dortmunder jede Woche in den Gazetten woanders unterschreibt? Wenn die englische Presse schon jubelt, weil er seinen ehemaligen Kollegen nach der Niederlage nicht umarmen will, weil das die Chancen der Bayern vermindern könnte, uns das nächste Herzstück heraus zu reißen und die Chancen von ManCity&co. auf den verhinderten Weltmeister vom Schnäppchentisch erhöhen soll. Klar, der Kevin. Der kann außer Dortmund nur noch ÄffZeh oder Celtic. Aber heute sitzt er auch mal wieder auf der Bank.
Die Millionenmänner in Gelb spielen derweil Hacke-Spitze-123 im gegnerischen Strafraum, ohne für Gefahr zu sorgen oder mich aus dem Sitz zu reißen. Dann heißt es „Westfalenstadion steh auf“, aber ein Großteil der Ost bleibt sitzen und der Rest setzt sich wieder hin, bevor der Gesang bei „unser ganzer Stolz“ angekommen ist. Fühlt sich so der Untergang an? Irgendwie geht’s weiter, aber nichts funktioniert mehr? Dann kommt der neue traurige kleine Prinz, der Rekordtransfer aus dem fernen Osten mal wieder mit Schwung Richtung Strafraum und mal wieder fehlt ihm die zündende Idee. Das nimmt Gala ihm ab und auch den Ball, der dann mehr zufällig beim fokussierten Aubame landet. Der versucht das Tor des Monats und trifft die Latte. Schon wieder Latte und ich sitze immer noch. Ist der Bruch so groß? Was muss passieren, um diese Wunde zu kitten? Ecke für uns, das Spekulationsobjekt winkt und flankt gefährlich. Irgendwie landet der Ball beim Langverletzten Subotic und der schafft nur eine Körperklaus-Aktion, die das Tor der Türken nicht gefährdet. Sind es nur diese Kleinigkeiten, die zwischen Triumph und Frustration liegen, oder ist da mehr kaputt gegangen?
Und dann ist er doch da, der große Moment. Piszczek hat eine Eingebung und spielt einen traumhaften Steilpass auf Reus, natürlich Reus, wer sonst hat es geahnt, ist in die Lücke gestartet und vollendet eiskalt. Erst als er raus ist, bemerke ich den befreienden Aufschrei aus meiner Kehle, aber gleich drückt auch schon wieder Gladbach auf mein Gemüt. Die Süd stimmt den EUROPAPOKAL-Song an und der zündet doch eigentlich immer, oder? Doch diesmal braucht es zwei Versuche damit es klappt und so wirklich entspricht die Begeisterung immer noch nicht dem Rekordstart in eine CL-Saison, der plötzlich zum greifen nah ist. Wie kann das denn auch bitte sein? Auf Platz 17 abgerutscht und Platz 18 als realistische Perspektive vor Augen und jetzt schon wieder vorne in Europa? Auf dem Weg zum Rekord? Das überfordert mein Herz. Diesen Spagat bekomme ich nicht hin. Schon senkt sich wieder die Herbstdepression über meine Wahrnehmung des Geschehens. Dann sehe ich den Heinrich aus Armenien schon wieder mit einem Querschläger statt einem zielgerichteten Abschluss und ich fange an zu grübeln. Ist es wirklich so, dass der Unterschied nur im Endergebnis liegt? Sind wir doch viel besser als die Tabelle in der Bundesliga sagt und viel schlechter als die Auftritte in Europa glauben machen?
Dann ist Halbzeit, „Borussia, Borussia“ Rufe begleiten die Mannschaften in die Kabinen, aber es kommt mir so vor, als fehle auch diesen Rufen noch die letzte Überzeugung. Kaum ist die Mannschaft im Tunnel verschwunden, erhebt sich ein Raunen auf den Rängen wie man es sonst nur selten hört. Offensichtlich hat auch die Süd unmittelbaren Diskussionsbedarf. Ist das nur eine Mogelpackung was uns hier serviert wird? Liegt es in der Liga an der Einstellung?
Zweite Halbzeit
Die Halbzeit rast vorbei und schon geht es weiter. Die Türken kommen als erstes raus und werden entsprechend mit Pfiffen begrüßt. Dann kommt der BVB und es geht weiter. Ich fühl mich hier immer noch wie in einem Film, der mich nicht wirklich betrifft. Der BVB spielt gleich nach vorn. Nicht alles klappt, aber es sieht irgendwie elegant aus. Wo kommt diese Leichtigkeit her? Ich kann mich da nicht wirklich reinfühlen. Mir lasten immer noch die Ponys zentnerschwer auf der Seele.
Dann fängt der BVB doch an zu schwimmen. Kehrt jetzt endlich Normalität ein? Die Männer in den schönen gelben Europapokaltrikots ziehen sich weit in ihre eigene Hälfte zurück. Die Gästefans beschmeißen sich weiter gegenseitig mit beeindruckend lauten Böllern, haben aber sonst nicht viel zu melden im Tempel. Die Zeiten wo der BVB zuhause ein Auswärtsspiel hatte, wenn es gegen eine türkische Mannschaft geht, sind wohl definitiv vorbei. Der Tempel wird im Gegenteil nur angestachelt und pfeift, was die Lunge hergibt. Das Spiel wird kurz unterbrochen und Hartmut und sein türkischer Nebenmann versenden beschwichtigende Bortschaften. Die Süd packt das Supergirl aus und endlich packt auch mich so etwas wie Europapokalstimmung. Brauchte es dazu den pyrotechnischen Weckruf? Keine Ahnung! Jedenfalls scheint auch die Mannschaft wieder geweckt. Die erste Ecke segelt noch wie gewohnt auf den gegnerischen Torwart, die Zweite erreicht aber schon Sokratis, der das zweite Tor markiert. Wieder wird das Supergirl beschworen, diesmal noch lauter und jetzt bin auch ich endgültig im Spiel. Scheiss auf Gladbach, man muss die Feste feiern wie sie fallen… doch da meldet sich schon wieder der kleine nervige Mann im Ohr, der mir irgendwas von Abstiegskampf zuflüstert. Aber jetzt hau ich ihm eine rein und verbanne ihn in die hintersten Gehirnwindungen. Wer weiß wie viele Europapokalabende wir in den nächsten Jahren noch erleben dürfen? Keiner! Aber heute ist so ein Festtag und warum sollte ich es mir verwehren, ihn zu genießen?
Galatasaray wusste nun natürlich auch, dass es höchste Eisenbahn war, wenn man hier noch irgendwas mitnehmen wollte und so sank der BVB wieder mehr und mehr in die eigene Hälfte zurück. Aber was war das? Der Möchtegern-Manuel Weidenfeller sprintete mal wieder aus seinem Tor, aber diesmal klärte er den Ball souverän. Ist auch er präziser unterwegs, wenn vor dem Spiel die Hymne tönt? Dann durfte Kagawa Shinji gänzlich ohne Krämpfe vom Platz, der Japaner hinter mir schmiss gleich vor Wut (oder war es doch Erleichterung) seinen Laptop zu Boden, bedankte sich aber trotzdem landestypisch-höflich, als ich ihm das ramponierte Gerät anreichte. Das Spiel plätschert derweil ein wenig dahin, auch für Gündogan ist das Tempo nicht zu hoch. Jetzt steht auch die Ost als die Süd danach ruft. Die Türken haben mit den Böllern anscheinend ihr letztes Pulver verschossen und so schallen die Wechselgesänge ungestört durch den Tempel. Ein echter Festtag, wer will da schon an Gladbach denken? Ich jedenfalls nicht, aber was kann man machen? Der kleine böse Mann hat sich wieder erholt und schreit in meinem Hinterkopf irgendwas von Abstiegskampf und letzter Platz. Soll ich mir nun wünschen, dass die Jungs ihre Kräfte schonen? Nein da steht er schon bereit Ciro Immobile, der italienische Krieger, zuletzt öfter ein Krieger von der traurigen Gestalt.
Dann fliegt auch schon eine Ecke in den Dortmunder Strafraum und es fällt der Anschluss. Die Türken zeigen sofort, dass sie ihr Pulver doch noch nicht verschossen haben. Diesmal wird aber trotz Böllern weiter gespielt aber Reus geht runter. Noch 20 Minuten zu gehen. Wieder eine Ecke für die Türken, wieder schwimmt der BVB, wieder mal Subotic mit einem ungelenken Befreiungsschlag. Doch plötzlich rollt der Konter und er endet beim Italiener. Zwar tat dem nach der Aktion sein Popöchen weh, aber der Ball zappelt im Netz. In Europa werfen uns auch Rückschläge nicht so schnell aus der Bahn. Die Gästefans können nur noch Pfeifen und Böllern, Herr Pieper will ins Borusseum und der Tempel ist ausverkauft. Europa halt. Ganz normal, ne? Gar nichts ist hier normal, aber wenn man dieses Fest miterlebt, dann kann man sich auch gut vorstellen, wie schwer es diese Mannschaft hat, am Wochenende danach wieder auf Abstiegskampf umzuschalten. Im Gästeblock herrscht nun Bewegung und während von oben immer noch Böller auf die eigenen Leute geworfen werden marschiert unten wohl Team Green auf und macht klar, dass an ein vorzeitiges Verlassen des Tempels nicht zu denken ist.
Bei Galatasaray wurde nun der Mann aus Dortmund-Scharnhorst eingewechselt, Yasin Öztekin, der die Chance zum Durm zu werden fahrlässig weggeworfen hatte, als Klopp ihn zum Außenverteidiger umschulen wollte. Immobile, der doch angeblich nicht wirklich Fußballspielen kann, schlug noch einen Millimeterpass in den Lauf von Lambobameyang, der allerdings nicht mehr am Torwart vorbei kam. Als man sich gerade wieder im echten Leben fühlte, weil eine unmotivierte Kackecke in den türkischen Strafraum flog, landete der Ball irgendwie vor den Füßen von Immobile, der ihn blind in die Mitte schlug, wo er von Semih Kaya zielsicher ins eigene Tor versenkt wurde. Die Gästefans vergaßen nun endgültig jeden Anstand und feuerten Pyrotechnik in die Familienblöcke auf der Ost, was natürlich den wütenden Protest der Dortmunder Fans provozierte. Ganz, ganz arm so ein Verhalten.
Letztlich trägt aber auch das dazu bei, einen Europapokalabend vom schnöden Ligaalltag abzuheben. In der Pressekonferenz sitzt dann ein Vertreter von Ultraslan, während seine Kollegen den Tempel noch nicht verlassen dürfen. Cesare Prandelli sieht unglücklich aus, als seine Antwort auf die Frage, ob er nicht so langsam mal bei Galatasaray aufhören will vom Italienischen zunächst ins Türkische und dann auch noch ins Deutsche übersetzt wird. Der BVB ist weiter und auch so gut wie Gruppensieger, denn Arsenal hat nur ein 3:3 gegen die angeblich zweitklassigen Belgier geschafft. Spätestens jetzt ist jedem klar, dass der Europapokal nach eigenen Gesetzen abläuft und am Sonntag wieder der graue Ligaalltag droht. Denn dann kommt Lucien Favres abgezockte Kontertruppe aus dem niederländischen Grenzland zu Besuch. Und dann bleibt nur noch die Hoffnung: Bitte Hartmut und Nobby spielt die Hymne ein, um die Mannschaft daran zu erinnern, dass sie eigentlich zu den Champions gehört, den Besten, les meilleures…
Web 05.11.2014