Borussia gewinnt 4:0 in Istanbul: Ein Reise- und Spielbericht
Neben den eher enttäuschenden Losen Anderlecht und Arsenal hatte es die Losfee in dieser Champions League Saison dann doch noch gut mit uns gemeint: Das Auswärtsspiel bei Galatasaray war in jeder Hinsicht ein Highlight. Eine Stadt, die man einfach lieben musste. Eine Gastfreundschaft, wie man sie bei Auswärtsspielen eher selten erlebt hatte. Ein Spiel, das man sich in wilden Nächten ungefähr so erträumt gehabt hätte. Diese wundervollen Erinnerungen konnte auch ein kurzer Zwischenfall nicht trüben, der die Stammtische in Deutschland zu wildesten Latrinenparolen veranlasst hatte.
Der türkische Fußball ist in den letzten Jahren zunehmend von der Bildfläche verschwunden. Die Erfolge der Nationalmannschaft liegen schon länger zurück, die großen Clubs wie Galatasaray, Besiktas oder Fenerbahce leben auf europäischer Ebene fast nur noch von ihrem Namen. Diese allerdings klingen wie Musik, versprechen Leidenschaft und Stimmung, kurzum: ein Hochfest des Fußballs, wie man es gerne erleben möchte. Große Reisewege hatten BVB-Fans deshalb auch gerne in Kauf genommen. Die weitesten Anreisen hatten BVB-Fans diesmal wohl aus Phnom Penh (über Bangkok und Moskau) und Caracas (über Miami, Jacksonville, Philadelphia und Frankfurt – nach einer Hoppingtour) hinter sich gebracht und viele Fans sich für einen längeren Aufenthalt entschieden. Niemand sollte seine Entscheidung bereuen!
Zwischen Taksim-Platz und Galatabrücke tobte das Leben. Etwa drei Millionen Menschen schlendern an einem normalen Tag die Istiklal Cd entlang, um bei einem der unzähligen Dönerstände, Kaufhäuser, Cafés oder anderweitiger Spezialitätengeschäfte einzukehren. Rund um die Uhr herrschte Hochbetrieb, nicht einmal um zwei Uhr am Mittwochmorgen herrschte Stille. Freundlich wurden wir begrüßt, von interessierten Passanten immer wieder auf Deutsch angesprochen und gefragt, warum wir denn nach Istanbul gekommen seien. Obwohl der Hafen mit riesigen Kreuzfahrtschiffen voll belegt war, konnte man die ehrliche Freude über jeden Touristen spüren, den es ins Land gezogen hatte.
Zwischen Hagia Sofia und Blauer Moschee trafen wir auf eine türkische Familie, die bereits seit 30 Jahren in Bielefeld lebte und zum Familienbesuch nach Istanbul gereist war. Eine freundliche Unterhaltung, ein weiterer Willkommensgruß und beste Wünsche für unser Spiel waren das Ergebnis. Auch rund um die unzähligen anderen Sehenswürdigkeiten ging es vollkommen entspannt zu. Die BVB-Fans aus Deutschland waren überall willkommen, Wünsche wurden ihnen so gut wie immer erfüllt und man kam nicht um den Eindruck herum, dass zumindest Istanbul eher in Europa angekommen war, als so mancher Ort in Frankreich, Spanien oder Deutschland.
Leider kam es am Vorabend des Spiels jedoch zu einer Situation, die in Deutschland für populistische Zwecke geradezu widerlich ausgeschlachtet wurde. Gegen Mitternacht hatte sich eine Gruppe von etwa 20 bis 30 gewaltsuchenden Galatasaray-Fans an eine von Dortmundern besetzte Kneipe gestellt und den anwesenden Fans ein „Match“ angeboten. Die Dortmunder wollten lieber feiern und verzichteten auf eine Prügelei, konnten die Galatasaray-Anhänger aber erfolgreich vertreiben. Diese suchten sich nun in anderen Kneipen Opfer, die anwesenden Zivilpolizisten erkannten die Gefahr und riefen Verstärkung, die Emotionen kochten hoch und es kam zu einem unübersichtlichen Handgemenge.
Unsere Kneipe lag davon nicht allzu weit entfernt. Zwei freundliche und jederzeit entspannte Zivilpolizisten beobachteten die Situation und gaben zunächst die Anweisung, die Außenbereiche zu räumen und die Musik leiser zu drehen. Zu diesem Zeitpunkt erreichten uns Berichte, nach denen Messer und Schlaginstrumente gesehen und einige Fans am Taksimplatz verprügelt worden seien – Quellen waren unter anderem pfefferspraygeplagte Fans, die sich im Waschbecken ihre Augen ausspülten. Die Situation wurde hektisch und unübersichtlich, die Musik wurde abgestellt und der Rollladen heruntergelassen, um die anwesenden Fans in der Kneipe vor möglichen Angriffen zu schützen.
Innerhalb von Sekunden wurde davon wieder Abstand genommen und unterbreiteten die Polizisten das Angebot, alle deutschen Fans in einer Gruppe zum Taksimplatz zu eskortieren. Wer bleiben wollte, durfte bleiben, sollte aber wissen, ohne anwesende Polizei auf eigene Gefahr unterwegs und möglichen Angriffen alleine ausgesetzt zu sein. Ein faires Angebot, wie man es sich in einer derartigen Situation in Deutschland wohl vergeblich wünschen würde. Wir verzichteten auf die Eskorte und zogen uns lieber in unsere direkt nebenan liegende Unterkunft zurück, machten uns wenige Minuten später aber wieder auf den Weg ins örtliche Nachtleben und hatten keinerlei Probleme.
Dennoch sollte eine kurze Warnung über unsere Facebookseite sicherstellen, dass anwesende BVB-Fans die Augen offen hielten und sich nicht unvorsichtig in Gefahr brachten. Dieser Eintrag wurde leider zum Anlass genommen, unerträgliche rassistische Absonderungen zu tätigen: Eine zweifellos gefährliche Situation, die jedoch bei jedem europäischen Auswärtsspiel außerhalb Londons oder Madrids vorkommen kann und von der Polizei gut gelöst wurde, wurde von deutschen Sofa-Kartoffeln mit unfassbaren Gewaltphantasien ausgeschmückt. Dass der Facebookeintrag wohl zu einer Agenturmeldung avancierte und bis hin zu bravo.de auf so gut wieder jeder Seite auftauchte (selbstverständlich martialisch mit einem Ausrufezeichen nach jedem Satz!), war so nicht beabsichtigt gewesen und stellte den eigentlichen Zweck der Warnung unbedarfter Fans ziemlich auf den Kopf. Eine Entschuldigung stünde angesichts dieser Ausschweifungen weniger den türkischen Gastgebern, als vor allem so manchem unserer deutschen Anhänger gut zu Gesicht. Deshalb stellvertretend an dieser Stelle: Entschuldigung für diese Entgleisungen, die so keinesfalls erwünscht oder der Situation angemessen waren!
Am Spieltag war davon dann auch gar nichts mehr zu spüren. Die Stadt begrüßte die Dortmunder Fans wieder mit hervorragendem Wetter und zeigte sich von ihrer allerbesten Seite. Eine Bootstour entlang des Bosporus ließ die schieren Dimensionen der Metropole erkennbar, der anschließende Stau samt Verkehrschaos auf dem Weg zum Treffpunkt am Dolmabahce-Palast das Leben in der Mega-City spürbar werden. Am Treffpunkt selbst hatte der BVB Fanbusse bereitgestellt, um die Anreise zum außerhalb gelegenen Stadion zu vereinfachen – zwar ging es etwas chaotisch zu, doch kamen alle Fans rechtzeitig und deutlich bequemer als mit dem Taxi oder öffentlichen Verkehrsmitteln zum Stadion.
Dort erwartete uns zunächst eine bombastische Atmosphäre. Eine schöne Choreographie und ein komplett hüpfendes Stadion, das lautstarkes Pfeifen erfunden zu haben schien, ließen ungefähr erkennen, welche Zustände bei einem Derby herrschen mussten. Türkische Fans und Journalisten suchten auf dem Weg ins Stadion und zum Tribünenplatz das Gespräch, wollten wissen, wie Borussia wohl spielen würde. Der Respekt vor dem BVB schien dabei groß zu sein. Die Fans waren bereits gefasst, auf dem Platz richtig einen eingeschenkt zu bekommen – große Lücken auf der Tribüne belegten, dass von Euphorie eher keine Rede sein konnte. Die Journalisten hatten angekündigt, dass Cesare Prandelli dem BVB wohl ein sehr defensives Spielsystem mit hart angerührtem Beton entgegenstellen wolle, immerhin sei Galatasaray inmitten einer tiefen Krise gefangen und müsse sich erst einmal Selbstvertrauen zurückgewinnen. Wie seltsam vertraut sich das alles anhörte!
Doch gerade Jürgen Klopp hatte sich für eine solche Aufstellung entschieden. Mit Mats Hummels, Neven Subotic und Sokratis hatte er drei Innenverteidiger aufs Feld geschickt, ergänzt mit den beiden defensiven Sechsern Sven Bender und Sebastian Kehl. Kevin Großkreutz bekam ebenso wie Ilkay Gündogan und Ciro Immobile eine Pause, um nicht zu schnell zu viel Belastung aufzubauen. Zielvorgabe war vor allem das „Halten der 0“ – was in der Champions League im Gegensatz zur Liga bislang ganz hervorragend funktioniert hatte.
Borussia erwischte dann auch gleich einen ganz hervorragenden Einstieg ins Spiel. Mit viel Biss und einer ganz anderen Körpersprache als zuletzt, wirkten die Spieler agil und entschlossen. Die Grundordnung der Hausherren hingegen wirkte konfus bis nicht existent, so dass sich bereits in den ersten Minuten deutliche Lücken abzeichneten. Ein guter Pass von Shinji Kagawa auf Marco Reus, der an der linken Seitenlinie allen davoneilte und den in der Mitte freistehenden Pierre-Emerick Aubameyang sah – mehr brauchte es nicht, um das bereits zu diesem Zeitpunkt verdiente Führungstor zu erzielen.
Und es war die Blaupause für nahezu alle Angriffe, die Borussia in der ersten Halbzeit herausspielen sollte: einen flinken Spieler an der Seite steil schicken, den Hühnerhaufen in der türkischen Innenverteidigung auseinanderziehen und dann eine Flanke vor das verlassene Tor schlagen, um den eher mittelprächtigen Fernando Muslera zu überwinden. So geschehen in der 18. Minute, als Aubameyang nach Vorarbeit von Lukasz Piszczek (und einem katastrophalen Stellungsfehler Auréllien Chedjous) bereits zum 2:0 vollstrecken konnte und in der 29. Minute, als Henrikh Mkhitaryan Aubameyang diesmal wieder von links freispielte und dieser das Pech hatte, statt einen Hattrick zu erzielen nur den Pfosten zu treffen. In der 37. Minute war es dann wieder Mkhitaryan, der nach dem gleichen Strickmuster durchgebrochen war und diesmal Reus den Treffer auflegen wollte – an dieser Stelle wäre es dann wohl aber besser gewesen, zur Abwechslung mal eine neue Platte aufzulegen und statt des Querpasses selbst aufs Tor zu schießen.
Dieser Gedanke hatte sich wohl auch bei Reus aufgedrängt: Muslera stand wie so oft viel zu weit vor seinem Tor und Reus hatte wahnsinnig viel freien Platz – ein satter Schuss aus gut 25 Metern in den Winkel bedeutete das bequeme 3:0 noch vor der Halbzeit. Die türkischen Fans schienen mit der Gesamtsituation unzufrieden und waren sich wohl nicht einig, wie sie weiter vorgehen sollten. Auf der Hintertortribüne entbrannte ein von der Pressetribüne aus sichtbarer Streit und mehrere Fans verließen den Block, um sich dort bei einer zünftigen Prügelei mit den eigenen Leuten die Meinung zu geigen. Die Nerven bei Galatasaray lagen jedenfalls blank und das Spiel war kaum dazu geeignet, an diesem Umstand etwas zu ändern.
Die Highlights des Dortmunder Spiels hingegen waren – neben den Toren – vor allem in kleineren Situationen zu sehen. Etwa in der 13. Minute, als Subotic den Ball nach einem Fehlpass an Wesley Sneijder verlor, die ganze Defensivabteilung aber sofort den Blick auf Sneijder richtete und sich ganz allein darauf konzentrierte, den Ball wieder zu klären. Oder in vielen anderen Situationen, in denen nicht mehr Schulterzucken und langsames Traben zu beobachten war, sondern die Einhaltung der alten Kloppschen Regel, dass nie der Spieler mit dem Ballverlust verantwortlich für einen Fehler sei, sondern immer derjenige Spieler, der ihm nicht zur Hilfe kam. Die Mannschaft war engagiert und stets gewillt, diesmal alles richtig zu machen und gerade die Selbstverständlichkeiten des Spiels so ernst zu nehmen wie sonst nur Kabinettstückchen. „Ein perfektes Spiel und nicht von dieser Welt“, gratulierte ein türkischer Fan nach Spielende zu dieser ersten Halbzeit.
Die zweite Halbzeit begann unverändert. Borussia wieder am Drücker, hinten sicher und mit Zug zum gegnerischen Tor. Bis Bender nach einem harmlosen Zweikampf mit Alex Telles am Boden liegen blieb und einfach nicht mehr aufstehen wollte. Es folgten eine kurze Behandlung, das Signal zum sofortigen Wechsel und ein Spieler, der mit schmerzverzerrtem Gesicht und einem unbewegten Arm direkt in die Kabine marschierte. Gute Besserung an dieser Stelle, Manni!
Im Stadion war es nun sehr leise geworden. Die Hausherren, die bis zur sechsten Minute begeistert und bis zum zweiten Gegentreffer zumindest noch laut gesungen hatten, waren so gut wie vollständig verstummt. Der Gästeblock, der die ersten 25 bis 30 Minutendurchgehend gerockt hatte und auf der entgegengesetzten Stadionseite sehr deutlich zu hören gewesen war, schien sich dem Trainingskick-Modus auf dem Rasen angepasst zu haben. Bewegung war bis auf wenige Szenen in der zweiten Halbzeit jedenfalls nicht mehr zu sehen und gesanglich blieb es bis auf drei Situationen ebenfalls bei einer sehr mauen Darbietung. Schade eigentlich, denn in dieser Situation hätte man ein lockeres Heimspiel auf der Tribüne feiern können.
Das Spiel plätscherte nun im Wesentlichen vor sich hin. Galatasaray kam mit dem Dortmunder Tempo zu keinem Zeitpunkt zurecht, die Innenverteidigung war ein schlechter Witz. Borussia ging mit den eigenen Chancen nun etwas verschwenderischer um als noch vor der Pause – mal zielte Reus am Tor vorbei, mal hielt Muslera die immer harmloser werdenden Schüsschen. Die türkischen Fans wollten sich das nicht länger ansehen – die ersten waren bereits zur Halbzeit gegangen, immer mehr von ihnen folgten. Der Unterrang der Haupttribüne war nach 75. Spielminuten nicht einmal mehr zu einem Viertel besetzt, der Galatasaray-Schriftzug fast vollständig zu lesen. Als ein Torschuss der Hausherren dann im Seitenaus landete, fühlte man sich endgültig nicht mehr wie in der Champions League.
Leider Gottes sollte das Spiel aber nicht an dieser Stelle enden. Kagawa musste mit muskulären Problemen längere Zeit behandelt und letztlich wieder ausgewechselt werden. Man fragt sich mittlerweile schon, in welcher körperlichen Verfassung er aus Manchester gekommen ist und wann wir wieder mit einem fitten Kagawa rechnen können. Für ihn kam Adrian Ramos ins Spiel, der sich wenig später nach toller Vorarbeit Gündogans ebenfalls noch in die Torschützenliste eintragen durfte. Kurz vor Schluss zwang Reus Roman Weidenfeller bei einer Verteidigungsaktion zu einer Glanzparade, ansonsten passiert nichts mehr – es blieb beim 4:0 Auswärtssieg, der in dieser Höhe absolut verdient war. Auch in der Stadt gab es allen Unkenrufen zum Trotz keine Probleme irgendeiner Art – Borussen feierten (auch gemeinsam mit türkischen Fans) rund um den Taksim-Platz bis in die frühen Morgenstunden.
Statistik
Galatasaray: Muslera – Tarik, Chedjou, Kaya, Telles, Melo – Altintop, Inan – Sneijder – Pandev, Burak
Wechsel: Dzemaili für Altintop, Yasin für Telles (beide 62.), Colak für Pandev (78.)
BV Borussia 1909: Weidenfeller – Piszczek, Subotic, Hummels, Sokratis – Bender, Kehl – Mkhitaryan, Kagawa, Reus - Aubameyang
Wechsel: Ginter Bender (55.), Gündogan für Hummels (69.), Ramos für Kagawa (82.)
Tore: 0:1 Aubameyang (6.), 0:2 Aubameyang (18.) 0:3 Reus (41.), 0:4 Ramos (83.)
Gelbe Karten: Sneijder, Kaya
Schüsse aufs Tor: 1:8
Stimmen zum Spiel
Gibt es diesmal leider nicht, da die Fanbusse (zurecht) nicht auf derlei Anliegen gewartet hätten.
SSC, 24.10.2014