Am Tag als die letzte Hoffnung starb und alle Borussen sangen
Die Vorahnung hing an diesem Tag wie eine graue Wolke über dem so sonnigen Dortmund. Ausgerechnet in unserem momentanen Zustand kam der HSV. Ein Gegner, dem wir nur zu gerne in den letzten Jahren Aufbauhilfe geleistet haben, den wir letztes Jahr mit den drei geschenkten Punkten fast im Alleingang in die Relegation gerettet haben, gegen den wir selbst in den großartigen Meisterjahren kaum mal gewinnen konnten. Der HSV, gegen den wir, je schlechter sie dastehen, umso deutlicher verlieren. Das konnte ja eigentlich nur schief gehen – und das tat es auch.
Dabei war alles so schön gewesen. Ein herrlicher Spätsommertag im Oktober begrüßte die zahlreichen Zuschauer im Westfalenstadion mit warmen Temperaturen und Sonnenschein. Ein Tag zum genießen!
Doch die böse Vorahnung war auch bei den Verantwortlichen des BVB sichtbar. Die ersten fast zwei Minuten prangte das Logo des VfB Stuttgart als Gegner auf der Anzeigetafel, ehe für drei Minuten alles schwarz wurde. Man munkelt, ein Mitarbeiter hätte in dieser Zeit vergeblich nach dem neuen Logo des HSV+ in der Datenbank gesucht.
Auf dem Platz stand derweil das Team, das sich wie schon in der Vergangenheit größtenteils selbst aufstellte. Durm für Piszczek, Hummels für Subotic und Ramos für Immobile waren die Änderungen im Vergleich zum Anderlecht-Spiel.
Die Mannschaft kam vor dem Anpfiff in einer spontanen Aktion auf die Süd zugerannt. Eine Entschuldigung für das Derby, eine Bitte um Unterstützung, ein Zeichen des Zusammenhalts – und vor allem eine schöne Geste. Diese verfehlte ihre Wirkung nicht, das Westfalenstadion war fest entschlossen, alles zu geben.
Rhythmusprobleme
Die erste Halbzeit war geprägt von Rhythmusproblemen. Während die Mannschaft auf dem Rasen vergeblich versuchte, ihren Rhythmus zu finden, war auf der Tribüne der Vorsänger viel zu häufig aus dem Selbigen. Was daraus folgte, war Frust bei den anfangs zahlreichen sangeswilligen Zuschauern und ein ziemlich skurriler Kanon in manchen Situationen. Zur zweiten Halbzeit war das Problem durch das Einstellen der altbewährten Kräfte dann aber glücklicherweise behoben. Bis dahin hatte allerdings das Spiel das seine dazu beigetragen, dass der Wille zu singen kaum mehr vorhanden war. Doch von vorne.
Der BVB präsentierte sich wie schon in den vorangegangenen Spielen einigermaßen willig und bemüht, aber auch offensiv ideenlos und defensiv instabil. Trotz gefühlten 95% Ballbesitz war jeder zarte Angriffsversuch des HSV viele Male gefährlicher, als das, was die Borussen aufs gegnerische Tor brachten. Ein Freistoß deutlich über das Tor, ein paar Distanzschüßchen und eine große Menge unnötiger Ballverluste waren das, was man von den Borussen in der ersten Halbzeit sah. Ganz besonders bitter war der Ballverlust von Ramos in der 35. Minute. Mitten in der Vorwärtsbewegung beförderte der ehemalige Herthaner das Spielgerät, wie schon viele seiner Mittspieler zuvor, grundlos in die Füße eines Gegenspielers. Ein paar Sekunden später waren zwei Hamburger ohne weitere Gegenwehr alleine vor Weidenfeller und konnten in einer Partie Schnick-Schnack-Schnuck ausspielen, wer ihn denn reinschießen darf. Lasogga gewann, Müller gab den Ball ab und alles lief so, wie man es sich erträumt hatte. In den Albträumen die Nacht davor.
Das war auch der Moment, in dem die Hamburger begannen auf Zeit zu spielen. Ich will es ihnen in der Situation noch nicht mal übel nehmen, es war wohl ihre einzige Chance und sie brauchten die Punkte vielleicht auch dringender als wir (aus ihrer Sicht zumindest). Die feine englische Art war es jedoch nicht, was ab dem Moment vom HSV kam. Ein sterbender Schwan nach dem andern zierte den Dortmunder Rasen, Bälle konnten nicht mehr gefangen oder gestoppt werden, sobald das Spiel unterbrochen war, und bei jedem Freistoß oder Abstoß lag der Ball genau an der falschen Stelle und musste mühsam umplatziert werden.
Es gab Zeiten, in denen der BVB einmal kurz durchgeatmet und einen Gegner der so offensichtlich am Boden lag dann freudestrahlend vernichtet hätte. Diese Zeiten sind fürs erste vorbei, doch noch war erst Halbzeit und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Ein zartes Aufbäumen
Erste Überlegungen wurden angestellt, ob man vielleicht eine schwarze Folie über das Dach ziehen, das Flutlicht einschalten und die Championsleague-Hymne spielen sollte zur Halbzeit. Auch eine Petition, nur noch Freitagsabends spielen zu müssen, wurde aufgesetzt. Es ist jedoch zu erwarten, dass die DFL beides ablehnen wird.
Dass nebst zaghaftem Applaus auch ziemlich viele Pfiffe die Mannschaft in die Kabine begleiteten, war traurig zu hören. Sowas gehört sich in Dortmund einfach nicht, egal wie frustriert man in so einer Situation völlig zurecht auch sein mag! Überlasst das Pfeifen denen, die damit Erfahrung haben und deren Mannschaften sich das gewohnt sind.
Zur Halbzeit musste auch noch Bender verletzt raus und wurde von Jojic ersetzt. Eine Auswechslung, die auch ohne Verletzung durchaus Sinn ergeben hätte, muss man dazu leider ergänzen.
Am Bild auf dem Rasen änderte dies nicht viel und auf den Rängen hatte die anfängliche Motivation mittlerweile konsterniertem Schweigen Platz gemacht. Natürlich sollte es unser Anspruch sein, in so einem Moment der Mannschaft nochmals Auftrieb zu geben und sie nach vorne zu peitschen. Doch andererseits sind auch wir keine Maschinen und der Frust saß mittlerweile bei den meisten ziemlich tief. So schwieg sich das Westfalenstadion dem Ende entgegen und erstaunlicherweise kam auch aus dem großen Gästeblock nicht allzu viel Erwähnenswertes. Vermutlich waren die HSV-Fans noch total schockiert, dass die tatsächlich die Möglichkeit hatten, hier drei Punkte mitzunehmen. Erst mit dem zunehmenden und immer absurder werdenden Zeitspiel der Hanseaten und dem einsetzenden Regen an gelben Karten kamen nochmals sowas wie Emotionen auf die Tribünen.
Und auch die Mannschaft berappelte sich noch mal. In den letzten zwanzig Minuten kam tatsächlich sowas wie Gegenwehr und daraus auch stolze 12 Torschüsse zustande. Dass in dem Moment dann auch das Glück fehlt, dass einer Mal noch rein geht, das hat man sich in den vorhergegangenen 70 Minuten hart erarbeitet. Ebenfalls hart erarbeitet haben sich die Hamburger die 5 Minuten Nachspielzeit. Doch es ist eben nicht alle Tage Málaga – und sicher nicht in der Bundesliga. Und so war es nach ein paar weiteren Versuchen Schluss, aus und vorbei. Nun war also auch die Hoffnung gestorben.
Es gibt viele Arten zu erklären und zu entschuldigen, was am gestrigen Samstag im Westfalenstadion geschehen ist, was in den letzten vier Spielen in der Bundesliga passiert ist. Doch wirklich befriedigend ist keine davon.
Wir haben viele Verletzte, vor allem im Mittelfeld – geschenkt.
Wir hatten mehr Torchancen, mehr Ballbesitz, mehr Eckbälle, mehr gewonnene Zweikämpfe, mehr angekommene Pässe – mag sein.
Wir hatten Pech mit Pfosten- und Lattenschüssen und nicht verwendeten 100%igen – hat uns früher auch nie abgehalten.
Wir machen nur individuelle Fehler, die dann zu Gegentoren führen – stimmt.
All dies ist in der Championsleague auch nicht anders, was da aber dazu kommt, was in den Bundesligaspielen durchs Band fehlt, ist ein zusätzliches Gefühl. Man kann es Wille oder Leidenschaft nennen, wenn man der Mannschaft einen Vorwurf machen will. Man kann es auch Selbstvertrauen nennen oder Konzentration. Es ist das, was die großartigen Siege in der Championsleague von den traurigen Vorstellungen in der Bundesliga unterscheidet.
Das Highlight zum Schluss
Doch das eigentliche Highlight des Spiels sollte erst noch folgen. Jürgen Klopp, der Meister der Manipulation (und das meine ich zu 100% positiv!), schickte seine Spieler vor die Süd und ging selbst auch mit. Es gab in der Situation nur zwei mögliche Arten für die Süd zu reagieren und sie wählte die richtige. Zögerlichem Applaus folgte ein „wir werden immer Borussen sein“, „wir sind alles Dortmunder Jungs“ und zum Schluss ein inbrünstiges Supergirl. Es ist nicht zu erwarten, dass eine andere Mannschaft in einem anderen Stadion in der gleichen Situation die gleiche Reaktion erwartet hätte. Doch Klopps Vertrauen in die BVB-Fans zahlte sich aus.
Keiner hat damit gesagt „Ihr habt gut gespielt.“ oder „Wir finden Euch super.“, es war nur das, was in dem Lied so schön zum Ausdruck kommt: „Wir stehn zu Euch, auch in schlechten Zeiten!“ Es war ein weiterer Schulterschluss zwischen Mannschaft und Fans, die Widerbelebung des Wir-Gefühls. Eine Zeitreise in die 2005 – 2008 Jahre, als solche Serien an schlechten Spielen normal waren und man trotzdem da stand und sang.
Die meisten Spieler, die da unten auf dem Platz standen und ehrfürchtig hoch schauten, haben sich unsere Unterstützung in den vergangenen Jahren verdient. Die restlichen hatten noch keine Gelegenheit dazu und verdienen einen Vertrauensvorschuss. Das hat die Süd gestern eindrucksvoll demonstriert und damit Mannschaft und Fans das Gefühl gegeben, etwas Besonderem anzugehören. Sie haben aus einem schrecklichen Tag einen guten gemacht, einen auf den sich nach der so willkommenen Länderspielpause aufbauen lässt. Und vielleicht werden wir in einigen Jahren unseren Kindern erzählen vom Tag, als die letzte Hoffnung starb und alle Borussen sangen.
Stimmen
Kehl: Die Hamburger haben das sehr gut gemacht, gut verteidigt, gut verschoben. Ich glaube, dass wir in der zweiten Halbzeit sehr sehr viel investiert haben und alle Möglichkeiten hatten, diese Spiel mindestens Unentschieden zu gestalten und sicherlich auch einen Punkt verdient gehabt hätten. Aber am Ende haben wir heute nicht das Glück gehabt, aus unseren wenigen Tormöglichkeiten ein Tor zu machen. Die Niederlage heute war sicherlich vermeidbar. Das ist natürlich sehr bitter, aber ich glaube, dass man der Mannschaft heute überhaupt keinen Vorwurf machen kann. Besonders hervorheben möchte ich heute die Fans. Was die heute abgezogen haben vor dem Spiel und nach dem Spiel - also so eine Gänsehaut wie ich sie heute nach der Niederlage hatte, hatte ich nach manchen Siegen nicht.
Ginter: (dazu, dass er nicht in der Startelf stand bzw seiner Position) So wie die ganze Mannschaft auch. Es gab gute und weniger gute Spiele. Das war bei mir sicher auch und bei uns als Mannschaft, dass die Konstanz gefehlt hat. Da müssen wir uns alle an die eigene Nase fassen. Dass wir da Konstanz rein bringen ist sehr wichtig.
(zum Spiel) Hamburg hat uns früh attackiert, wir haben uns vor allem in der ersten Halbzeit wenig Chancen heraus spielen können. In der zweiten Halbzeit war es dann ein bisschen besser, da haben wir emotionaler gespielt. Aber Hamburg hat immer wieder gekontert und leider haben wir dann den Ball nicht mehr ins Tor bekommen.
Noten
Weidenfeller: Hatte eigentlich kaum was zu tun, schaffte es trotzdem sich durch falsches rauslaufen in Bedrängnis zu bringen, badete seine Fehler jedoch selbst wieder aus. Dazu eine Glanztat auf der Linie. Note 3
Durm: Wirkte unstabil und unsicher auf der falschen Seite. Er braucht die Hilfe seiner Mitspieler um konstant und stabil sein zu können im Moment, diese bekam er heute nicht. Note 4
Sokratis: Der Mann hat nicht nur einen einzigen Gesichtsausdruck, auch seine Leistung schwankt kaum. Er räumt ab, was abgeräumt werden muss, nach vorne spielen müssen andere. Note 3
Hummels: Es schien anfangs, als würde kein einziger Pass von ihm ankommen. Später etwas besser und hinten stabil. Note 3.5
Schmelzer: Bis auf den knapp drüber gesetzten Freistoß eigentlich unsichtbar. Note 4
Bender: Warf sich wie immer in jeden Zweikampf und kämpfte um jeden Ball. Größtenteils jedoch vergeblich. Bei ihm war das „wollen, aber nicht können“ am besten sichtbar. Note 4.5
Kehl: War der stabilere Part im Mittelfeld, konnte ein paar Lücken schließen, mehr aber auch nicht. Note 3
Aubameyang: Wie die meisten seiner offensiven Kollegen traf er eigentlich immer die falsche Entscheidung. Schoss, wenn er passen musste, passte wenn er schießen sollte. Note 4
Kagawa: Er war bei weitem der Beste auf dem Platz – und das schloss die Hamburger durchaus mit ein. Geniale Pässe, gute Dribblings, leider war aber keine spielentscheidende Szene dabei. Note 2
Großkreutz: Bemüht, mit einigen guten und noch viel mehr unauffälligen Szenen. Note 3
Ramos: Ihm muss das Gegentor angerechnet werden, da führt kein Weg daran vorbei. Und die Widergutmachung in der Offensive gelang ihm nicht. Note 5
Jojic: Brachte etwas mehr offensiven Schwung. Note 3
Piszczek: Seine Einwechslung bewirkte deutlich sichtbar etwas. Offensiv präsent, defensiv nicht gefordert. Note 2.5
Immobile: Hatte den Ausgleich auf dem Fuß, ist im Moment aber in der Bundesliga glücklos. Nach dem ersten Ballkontakt kaum noch in Erscheinung getreten. Note 3.5
Statistiken
Borussia Dortmund: Weidenfeller - Durm, Sokratis, Hummels, Schmelzer - S. Bender, Kehl - Aubameyang, Kagawa, Großkreutz - Ramos
Einwechslungen: 46. Jojic für S. Bender, 68. Piszczek für Durm, 78. Immobile für Großkreutz
Hamburger SV: Drobny - Diekmeier, Djourou, Westermann , Ostrzolek - Arslan , Behrami - N. Müller, Holtby, Jansen - Lasogga
Einwechslungen: 66. Stieber für Diekmeier, 83. Jiracek für Lasogga, 87. Rudnevs für N. Müller
Tore: 0:1 Lasogga (35., Rechtsschuss, N. Müller)
Gelbe Karten: Sokratis, Jojic - Holtby, N. Müller, Drobny, Ostrzolek
Schiedsrichter: Zwayer - ist gut umgegangen mit der hektischen Partie und dem Zeitspiel der Hamburger. War einer der Besten auf dem Platz. Note 2
Nadja, 05.10.2014