Ein Blick in Vergangenheit und Zukunft des Fussballs
Die Ankündigung der BVB würde in Liverpool spielen verursachte bei den Fans vom BVB eine grosse Euphorie und so war es auch nicht verwunderlich, dass rund 1'000 Fans am Ende den Auswärtsblock an der legendären Anfield Road bevölkerten. Die Fanabteilung hatte sogar eine Auswärtsfahrt organisiert, das zeigt in etwa den Stellenwert dieses Testspiels. Man munkelt, dass sogar Spiderman anwesend gewesen wäre.
In Liverpool wurden die Fans dann allerdings von Regen und geschlossenen Pubs begrüsst (um 7 Uhr morgens dürfte das aber niemanden gross überraschen, eigentlich) und so wurden die zwei offenen Frühstücksläden um das Stadion herum überrannt von schwarz-gelben, nassen teils übernächtigten Fussballfans. Doch im Norden von England lässt man sich von sowas nicht stressen und die Damen hinter der Theke brieten in einer Seelenruhe den Speck, die Würstchen, die Bohnen und die Spiegeleier bis auch der letzte hungrige Fussballfan mit einem ordentlichen English breakfast versorgt war. Doch was dann? Es regnete noch immer und die Pubs öffneten wahlweise um 10 oder 11 Uhr. Eine Runde schlafen im Bulli, eine Tour ums Stadion oder vor dem Pub darauf warten, dass die Tore öffneten waren die Alternativen. Letzteres wurde von einer Gruppe von beinahe 20 Mann an der Ecke vom Stadion praktiziert. Man konnte dem Wirt durch die Fenster sogar dabei zuschauen, wie er mit Nadel und Faden die Löcher in der Couch zunähte, früher öffnen kam jedoch nicht in Frage. Und so war es Punkt zehn, als unter grossem Jubel die Türe aufging und man endlich, endlich an sein Bier gelangen konnte.
Als wir gegen halb zwölf die letzten Meter Richtung Stadion in Angriff namen, war das Pub bereits einige Zeit zum Bersten voll. Am Stadion angelangt war der Gästeeingang dann jedoch der einzige an dem keine ellenlange Schlange stand, denn die Borussen waren in guter alter Tradition bereits im Stadion. Es war schon etwas besonderes, die legendäre Anfield Road zu betreten und das Herz schlug zwischendurch schon mal schneller beim Gedanken daran, wo man sich gerade befand. Allerdings machte ich mir selbst wenig Illusionen was die Stimmung anging, ich hatte schon zu oft am Fernsehen die Stimmung in Liverpool beobachten können und auch von Leuten die öfter mal in Liverpool waren wenig Gutes gehört. Leider sollte ich damit recht behalten.
Aber zuerst kam das Highlight des Tages: You'll never walk alone. Für nicht wenige waren diese drei Minuten vor Anpfiff der Grund für die knapp 1'000km in den Norden Englands. Und es lohnte sich. Die Gänsehaut in diesem Moment war auch bei mir nicht wegzureiben und links und rechts flossen sogar ein paar Tränen. Die Fans von Liverpool bedankten sich derweil beim BVB für die Unterstützung für ihren Kampf für Gerechtigkeit für die 96 Hillborough Toten. Gleich nach dem Anpfiff ging es dann stimmungstechnisch erstmal vielversprechend weiter. In einer Art Wechselgesang brachten der Heim- und der Auswärtsblock jeweils ein Lied, während die andere Seite andächtig zuhörte. Nach gut fünf Minuten und dem fünften Lied hintereinander aus dem BVB-Block wurde jedoch auch dem letzten klar, dass die Anfangseuphorie nicht auf den Rest des Spiels schliessen liess.
Auf dem Platz waren die Verhältnisse auch sehr eindeutig und deutlich sichtbar, dass der BVB noch nicht so weit ist in der Vorbereitung wie Liverpool, die am kommenden Wochenende in die Liga starten, direkt aus der vollen Trainingswoche kam und dazu auch körperlich scheinbar nicht gut dagegen halten konnte. Vor allem die beiden schnellen Flügel Sturridge und Sterling beschäftigten die wackelige Abwehr mehr als uns eigentlich lieb sein könnte. Bereits in der 10. Minute verwertete Sturridge eine der zahlreichen Vorstösse zum 1:0. Nur vier Minuten später behinderte ein grosser Pulk nach einem Eckball Langerak vom herausrennen aus seinem Tor (man hätte unter Umständen von Behinderung im 5-Meter-Raum sprechen können, allerdings war Sokratis der Hauptgrund der Behinderung), wodurch Lovren unbehindert zum 2:0 einköpfen konnte.
Traurig war in dem Moment aber auch, wie die Heimfans reagierten. Mal abgesehen von einem beeindruckend lauten Torjubel und einem kurzen "Liverpool" Gesang herrschte weiterhin Totenstille. Unterbrochen nur von zwei wackeren BVB-Fans, die immer wieder – mal mehr und mal weniger erfolgreich – den Gästeblock zum Singen animieren wollten. Dass die Text- und Melodiesicherheit dabei nicht gerade hoch war, tat das seinige dazu bei, dass es mit der Zeit auch im Gästeblock bedrückend still wurde und man auf dem Feld die Kommentare der Spieler hörte. Kommentare gab es zudem auch von der Fraktion von gut 25 Mann hinter uns, nennen wir sie die "Ultras Inkognito", die über die beiden "Vorsänger" lästerten und vor allem bis etwa zur 60. Minute auch immer wieder versuchten, die Stimmung zu boykottieren. Oder mit anderen Worten: genau das taten, was sie den (Suff-)Kutten im Westfalenstadion gerne vorwerfen. Aber das sollte sich zum Glück noch ändern, dazu später mehr. Zuerst war es mal Pause und es wurde ordentlich durchgewechselt. Beim BVB ersetzte Hofmann Kirch, Immobile Ramos und Bender Kehl. Bevor diese Wechsel fruchten konnten, liess sich unsere Abwehr aber an der Torauslinie von Coutinho austanzen, der aus spitzem Winkel traf. Das letzte Tor des Abends fiel nach knapp einer Stunde: Henderson traf zum 4:0. Das entlockte den Heimfans noch nicht mal mehr ein echtes "Liverpool" und auch das obligatorische "You'll never walk alone" zum Schluss wurde höchstens noch vom "Kop" getragen.
Mit der Entscheidung des Spiels wurden die "Ultras Inkognito" hinter uns nun endgültig zynisch und forderten die Fans zum Hinsitzen auf (damit sie das Spiel im Sitzen besser sehen konnten) und als der gesamte Gästeblock auch tatsächlich sass, brachten sie es scheinbar doch nicht übers Herz, die Leute einfach sitzen zu lassen und stimmten ein "Ballspiel Verein Borussia aus Dortmund" an. Das wiederholte sich dann gefühlte 30 Mal, gerne auch wieder befeuert von den beiden "Vorsängern". Bis die "Ultras Inkognito" den besten Einfall des Tages hatten und "We all live in a Yellow Submarine" anstimmten. Das brachte den Gästeblock noch einmal richtig zum kochen und sogar die beiden langen Seiten des Stadions klatschten und sangen fröhlich mit. Es war das zweite Highlight des Tages. Ein paar mehr oder weniger ironische Gesänge und ein "Kevin Grosskreutz du bist der beste Mann", das hoffentlich nicht ironisch gemeint war, später war das Spiel dann glücklicherweise auch zu Ende.
Es war ein seltsames Gefühl, in Liverpool zu sein und die traurige Realität zu sehen. Denn im Gegensatz zu unserem Gästeblock, der mit einem ordentlichen Vorsänger und einem Spiel worin es um etwas geht ein ganz anderes Bild abgeben wird, liess einem bei Liverpool der Eindruck nicht los, dass nur ein ganz besonderes Spiel oder ein ganz besonderer Gegner den Fans etwas mehr entlocken könnte als ein kurzes "Liverpool". Dass ausgerechnet in Liverpool im Moment so schmerzlich deutlich wird, wie schlecht es um die Stimmung in England bestellt ist, tut weh zu sehen, auch wenn man es hat ahnen können. Wenn man vom Gästeblock rüberschaut auf den "Kop" und die Augen leicht schliesst, dann sieht man dort noch immer diese riesige Stehplatztribüne von den schwarz-weiss Fotos der 60er Jahre die mit den Beatles-Liedern den Anfang der Fangesänge in Europa gemacht hat. Nun zeigt uns derselbe "Kop" wie es um die Zukunft des Fussballs in Europa bestellt ist, wenn wir nicht alle zusammen für unsere Rechte kämpfen.
Die Anfield Road ist sowas wie das Forum Romanum geworden: es ist nicht das was da ist, sondern die Bedeutung dessen, was einmal da war, was einen tief beeindruckt.
You'll never walk alone!
Tore: 1:0 Sturridge (10.), 2:0 Lovren (14.), 3:0 Coutinho (48.), 4:0 Henderson (61.)
Aufstellung Dortmund: Langerak - Piszczek (58. Großkreutz), Sokratis (81. Sarr), Ginter, Schmelzer (81. Knystock) - Kehl (46. Bender), Kirch (46. Hofmann) - Mkhitaryan (64. Ji), Aubameyang (71. Bandowski), Jojic (77. Amini) - Ramos (46. Immobile)
Aufstellung Liverpool: Mignolet; Manquillo, Skrtel, Lovren, Johnson; Gerrard, Can, Henderson; Coutinho, Sturridge, Sterling.
Nadja, 14.08.2014