Reus ex machina
„Was in der Küche die Schabe, ist in Deutschland der Schwabe.“ Mit dieser Weisheit eines bekannten wie stets beliebten BVB-Anhängers können sowohl die Ereignisse vor als auch während des Spiels treffend zusammengefasst werden. Während sich die Polizei zur Thematik „Schikane für Anfänger“ fortbildete, konnten die baldigen Zweitligisten auf dem Feld noch nicht einmal einen 2:0-Vorsprung halten. Positiv: In Städten wie Heidenheim, Sandhausen und Aalen versteht man wenigstens diesen unsäglichen Dialekt des Cannstatter Wasens.
Es gab im Vorfeld dieses Spiels einige Gründe, warum man mit einem flauen Gefühl in der Magengegend in die BaWü-Landeshauptstadt fuhr. Aufgrund des bisherigen Saisonverlaufs vor CL-Spielen in dieser Saison musste man ja schon fast zwangsläufig von einem Misserfolg ausgehen. Dazu kam noch die Tatsache, dass es für den VfB Stuttgart momentan um die Existenz (symbolisiert auch durch ein „Kampf bis zum Schluss“-Banner in der Cannstatter Kuve) geht und die bekennende Tretertruppe deshalb wohl noch aggressiver als in der Vergangenheit agieren würde. Schließlich verzichteten die Ultra-Gruppierungen aufgrund der hohen Ticketpreise auf dieses Auswärtsspiel und riefen stattdessen zum Heimspiel unserer Zweitvertretung in der Roten Erde gegen Münster. Damit bestand auch die Gefahr, dass auf den Rängen im Gästebereich die Stimmung nur schwer in Fahrt kommen würde.
Vor dem Spiel in Stuttgart zeigte sich derweil wieder einmal die ganze Sinnlosigkeit dieses Bundeslandes und dessen Einwohner. So wurde fast drei Stunden vor dem Anpfiff der Vorplatz vorm Gästebereich abgeriegelt, sodass viele Dortmunder Fans nicht mehr in der Lage waren, zum beliebten Biergarten gegenüber zu gelangen. Dieser war übrigens schon gerammelt voll. Und zwar fast ausschließlich mit schwarzgelben Trikots. Sinnloser geht es wohl kaum. Und auch die ganze Widersprüchlichkeit polizeilicher und politischer Argumentationen zeigte sich hierbei erneut: Sind sonst alle Ultras potenzielle Straftäter und gefährlich, waren diese alle zu Hause in der Roten Erde geblieben. Egal, galten diesmal eben alle anderen BVB-Fans als Sicherheitsrisiko.
Dazu kommt noch, dass die schwäbischen Ordner und Polizisten mit ihrem verboten gehörenden Dialekt die Anliegen der BVB-Fans entweder nicht verstehen konnten oder wollten beziehungsweise lieber gleich mit Drohgebärden zum Knüppel griffen. Auch der herbeigerufene Fanbetreuer des VfB Stuttgart konnte nichts ausrichten, während selbst einzelne Polizeibeamte mit Unverständnis auf diese Maßnahme reagierten: „Wir verstehen es doch selbst nicht.“ Mit Glück konnten zumindest einige BVB-Fans in den Biergarten, wenn sie die anwesenden Volunteers von ihrer Friedfertigkeit überzeugen konnten.
Die Kirch(e) im Team lassen
Sportlich verzichtete Hubertus Jodokus Quak Stevens in seinem Kader auf BVB-Leihgabe Moritz Leitner. Ob moralische, sportliche oder menschliche Gründe dafür verantwortlich waren? Bei Leitner kann man sich alles vorstellen. „Der Trainer hat mich einfach rausgeschmissen“, so Leitner vor dem Spiel. Vielleicht sollte er sich aber auch einfach mal selbst hinterfragen. Ansonsten sind auf Schwabenseite die Namen eigentlich auch egal. Treten können sie alle. Jürgen Klopp überraschte die versammelte Medienmeute mit der Nominierung Oliver Kirchs in der Startelf. Auf der Bank saßen dafür zunächst unter anderem vermeintliche Stammspieler wie Aubameyang, Sahin und Piszczek. Für ihn spielte Allrounder KG19 mal wieder als Rechtsverteidiger.
Nach vierzig Sekunden Spielzeit machten die Gastgeber ihrem Ruf umgehend alle Ehre, als Hofmann von den Beinen geholt wurde. Andere Vereine haben eine Spielphilosophie mit identischer Taktik von den Minikickern bis zur ersten Mannschaft. Und auch dem VfB muss man so etwas attestieren, da diese überharte Einstellung trainerunabhängig bei ihnen zu beobachten ist. Nichts mit Zweikampfhärte, sondern einfach nur mit Unkonzentriertheit und Fahrigkeit hatte dann der grobe Fehler Kirchs zu tun. In einen viel zu laschen Pass von ihm spritzte Gentner hinein und ließ Weidenfeller mit einem platzierten Schuss keine Chance (9.). Vielleicht sind solche Situationen auch der Grund, warum Kirch bis jetzt wenig bis gar keine Rolle gespielt hat und Klopp tatsächlich so etwas wie Ahnung von Fußball hat...
Kurz nach dem dummen und unnötigen Gegentreffer scheiterten Lewandowski und Großkreutz aus guten Positionen auf der Gegenseite. Zu dieser Phase des Spiels war das Momentum auch auf Seiten der Zuschauer beim VfB Stuttgart. Während sich zumindest die Cannstatter Kurve etwas vom verwöhnten schwäbischen Opernpublikum abheben konnte, war aus dem schwarzgelben Block bis auf ganz, ganz wenige Situationen nur Schweigen zu vernehmen. Standardgesänge wurden meistens umgehend von der Heimkurve aufgenommen und zu Spott verkehrt. Dieser Spott wurde in der 19. Minute nur noch potenziert, als Traore mit Durm Ringelpiez ohne Anfassen spielte und in der Mitte Harnik zum 2:0 auflegte. Merke: Wenn der BVB vor einem CL-Spiel steht und bei einem Abstiegskandidaten anzutreten hat, ist eine Wette auf den Außenseiter inzwischen eine sichere Bank. Und irgendwann ist es dann vielleicht doch nicht mehr Zufall, sondern eine Einstellungssache! So die Gedanken des gemeinen BVB-Fans um 15.50 Uhr.
Mkhitaryan wieder ohne Fortune
Aber zumindest ist Aufgeben aus dem BVB-Duden seit Dolls Abgang und Klopps Ankunft endgültig verschwunden und unsere Farben bäumten sich auf. So war es erst Hofmann, der nach einer halben Stunde eine herrliche Vorlage auf Reus spielte, der sich diese nicht entgehenlassen konnte und mit links einschoss. Und nur eine Minute später wäre fast alles wieder auf Null gestellt worden, doch hatte Mkhitaryan wie schon gegen die Blauen das falsche Zielwasser übers Müsli gekippt. Sein Versuch ging, dank einer tollen Fußparade Ulreichs, knapp am rechten Pfosten vorbei. Und auch Reus vergab aus aussichtsreicher Position kurz vor dem Halbzeitpfiff, nachdem ihm Kehl sowie Lewandowski diese Chance durch entschlossenes Zweikampfverhalten ermöglicht haben. Zur Halbzeit war der BVB also eine Mischung aus dem Defensivverhalten in Hamburg und der Abschlussschwäche gegen Gelsenkirchen.
Und wie das dann oft so ist, betritt irgendwann ein Herr Wegmann den Platz und verkündet per Stadionmikro: „Erst hatten wir kein Glück, dann kam auch noch Pech dazu.“ Nach der besten Aktion Kirchs stürmte Lewandowski entschlossen vor und setzte einen echten Kracher ans Gebälk (56.). Kurz danach foulte Kirch wieder ungeschickt im Mittelfeld und bekam von Weiner einen letzten blauen Brief zugesteckt. Elternteil Klopp reagierte sofort und brachte Sahin für Kirch. Das Geläuf ebenfalls verließ Mkhitaryan für Aubameyang. Und zu Hause weinte der Scrabblesack vor Freude.
In der 68. Minuten dann die Szene des Spiels und zugleich der Wendepunkt: Der wieder sehr engagierte Lewandowski (er scheint wirklich bis zum 30.6.2014 alles zu geben!) setzte sich herrlich gegen Niedermeier durch, der sich kurz vorm Einschuss nur noch mit einem Foulspiel behelfen konnte. Schiedsrichter Weiner entschied folgerichtig und zu Recht auf Elfmeter und glatt rot für Niedermeier, der gefühlt bei jeder Partie gegen den BVB keine Lust auf die 90 Minuten zu haben scheint. Den anschließenden Elfer verwandelte Reus für BVB-Verhältnisse fast schon traumwandlerisch sicher. Und zum ersten Mal in diesem Spiel waren die BVB-Fans mit lauten „Borussia“-Rufen im gesamten Rund zu vernehmen.
Weiner mit Achillessehnenriss
Warum der Fußball nie von seiner Faszination verlieren wird, zeigte sich dann eine Viertelstunde vor dem Ende, als sich Schiedsrichter Michael Weiner vom TSV Ottenstein ans Bein fasste und trotz Behandlungspause ausgetauscht werden musste. Später sollte bei dem niedersächsischen Polizisten im übrigen ein Achillessehnenriss diagnostiziert werden. Für ihn übernahm Assistent Grudzinski, der so wie die Jungfrau zum Kinde zu seinem ersten Einsatz überhaupt in der ersten Bundesliga kam. Eins vorweg: Unter Berücksichtigung dieser Umstände sollte er ein sehr gutes Spiel machen. Weiner wiederum mimte von da an den vierten Offiziellen, während Pickel die Fahne von Grudzinski übernahm. Der BVB ließ sich von dieser Kuriosität nicht ablenken und bewies Moral sowie die Klasse einer Spitzenmannschaft. Ein langer Ball Kehls wurde von Aubameyang nicht blind in Richtung Tor transportiert, sondern auf den am Strafraum lauerende Reus abgelegt. Sein abgefälschter Schuss ging endlich mal INS Tor und jetzt war der Jubel bei allen Borussen natürlich groß (83.). Insgesamt war die Cannstatter Kurve aber weiter lauter wie engagierter und wurde fast noch mit dem Ausgleich belohnt. Jedoch ging Harniks Lupfer knapp rechts neben das Tor (85.).
Das Ende der Partie inklusive der sechs Minuten Zugabe spulte der BVB dann im Stile einer Spitzenmannschaft routiniert ab und ließ den VfB nur noch drei-, viermal überhaupt an den Ball kommen. Durch dieses Comeback nach einem 0:2-Rückstand (letztmals gelang dem BVB das übrigens im November 2003 bei einem Heimspiel gegen den HSV) wurde endlich einmal in dieser Saison vor einem CL-Spiel gewonnen und die Diskussionen darüber dürften zumindest bis zum nächsten Vorfall diesbezüglich verstummt sein.
Hasta luego, Madrid!
Stimme des Tages
Marco Reus: Wir haben die ersten Minuten des Spiels einfach verschlafen. Wir haben dumme Fehler gemacht und waren im Spielaufbau nicht gut. Dazu haben wir uns einfach schlecht bewegt. Es war zu Beginn genau wie in Hamburg. Wir haben Stuttgart zu Toren eingeladen und erst das 2:0 war dann der Weckruf. Es ist in Stuttgart natürlich immer schwer zu spielen, obwohl die Vorzeichen für uns ganz gut waren. Je länger die Partie dauerte, desto besser wurden wir und haben uns dann auch mit den Toren belohnt. Unabhängig von der Champions League war es auch einfach gut für unser Selbstvertrauen, nach einem 0:2 zurückzukommen. Jetzt sollte die Kritik, was die Spiele vor der Champions League betrifft, auch verstummt sein.
Stimmen der Trainer
Jürgen Klopp: Gute Besserung an Herrn Weiner. Der Start war denkbar ungünstig, was sich wohl jeder vorstellen kann, wenn es 0:2 nach zwanzig Minuten steht. Wir haben den Fußball heute nicht verstanden und das 0:1 mit zwei Rückpässen selbst eingeleitet. Besonders mit dem zweiten hat Sokratis nicht gerechnet. Und Traore gegen Durm sollte man auch nicht so oft haben, wie vor dem 0:2. Aber dann haben wir einfach gut reagiert. Das war wichtig! Schon nach dem 0:2 war es so, doch da hat Ulreich überragend gehalten. Und schon nach diesen Großchancen hat man gemerkt, dass beim VfB Stuttgart das Selbstvertrauen etwas erschüttert wurde. Eine Rote Karte hilft bei diesen Temperaturen dann natürlich der Überzahlmannschaft. Ich wünsche dem VfB alles Gute und ich bin mir sicher, dass ich auch in der nächsten Saison hier wieder eine Pressekonferenz geben werde.
Hubertus Stevens war aufgrund einer Erkältung nicht in der Lage, ein Fazit zum Spiel abzugeben. Interessant war nur seine Antwort auf die Frage, warum Moritz Leitner nicht im Kader war: „Leitner? Weil wir anders entschieden haben!“ Sein Gesicht sah dabei nicht gerade nach einem entspannten Grillabend aus.
Einzelbewertung
Roman Weidenfeller: Den ersten Schuss hätte er in absoluter Top-Form eventuell sogar halten können. Am Ende sicher und souverän. Note 3.
Sebastian Kehl: Solide, ohne zu glänzen. Sein langer Ball war einleitend und entscheidend vor dem 3:2-Siegtreffer. Note 3.
Jonas Hofmann: Mit wunderbarem Pass vor dem 1:2-Anschlusstreffer. Ansonsten nicht immer konsequent genug im letzten Drittel des Spielfeldes. Note 3.
Robert Lewandowski: Mit Pech beim Pfostenschuss. Sorgte mit dem herausgeholten Elfmeter vorm 2:2-Ausgleich jedoch für die entscheidende Wende. Note 2.
Henrikh Mkhitaryan: Scheiterte an Ulreichs großem Zeh unmittelbach nach dem Anschluss zum 1:2. Nicht ganz so präsent wie gegen den blauen Vorortverein. Note 3.
Marco Reus: Bei drei Toren keine Diskussion. Note 1.
Mats Julian Hummels: Ohne Orientierung in den ersten zwanzig Minuten. Später sicherer und besser. Schaltete sich dann auch vermehrt nach vorne ein. Note 3,5.
Kevin Großkreutz: Läuferisch wieder mal exquisit. Nach vorne jedoch nicht ganz so zwingend. Note 3.
Oliver Kirch: Böser Fehler vor dem 0:1-Rückstand. Nur ein guter Pass vor Lewandowskis Pfostenschuss. Akut gelb-rot-gefährdet zu Recht ausgewechselt. Note 5.
Sokratis: Am Anfang ebenfalls Schwimmer. Später nicht mehr groß gefordert. Note 3,5.
Erik Durm: Vor dem 0:2 von Traore düpiert. Offensiv auch nicht mit so vielen Impulsen wie gegen GE. Note 4.
P.-E. Aubameyang: Kluge Vorlage vor dem 3:2 und danach sehr clever beim Zeitspiel. Note 2,5.
Nuri Sahin: Weltklasse-Pass auf Hofmann, der den Ball leider nicht verarbeiten konnte. Mit seinem Wechsel kam Stabilität und Sicherheit. Note 2,5.
Milos Jojic war trotz der langen Nachspielzeit immer noch etwas zu kurz auf dem Rasen, der die Welt bedeutet.
Daten zum Spiel
VfB Stuttgart (4-2-3-1): Ulreich – Schwaab, Rüdiger, Niedermeier, Boka – Gruezo, Gentner – Traore (70. Sakai), Didavi (60. Maxim), Harnik (86. Cacau) - Ibisevic
BVB (4-2-3-1): Weidenfeller – Großkreutz, Sokratis, Hummels, Durm – Kehl, Kirch (60. Sahin) – Hofmann (76. Jojic), Mkhitaryan (60. Aubameyang), Reus - Lewandowski
Tore: 1:0 Gentner (9., Rechtsschuss, Vorarbeit Kirch), 2:0 Harnik (19., Rechtsschuss, Traore), 2:1 Reus (30., Linksschuss, Hofmann), 2:2 Reus (68., Rechtsschuss, Foulelfmeter, Niedermeier an Lewandowski), 2:3 Reus (83., Rechtsschuss, Aubameyang)
Schiedsrichter: Weiner (Giesen); Assistenten: Grudzinski, Henschel; 4. Offizieller: Pickel
Zuschauer: 59.500 („Das heißt, wir sind im Heimbereich ausverkauft.“ Stadionsprecher)
Chancen: 4:09
Torschüsse gesamt: 11:17
Schüsse auf das Tor: 3:5
Schüsse neben das Tor: 6:7
Abgeblockte Schüsse: 2:5
Ecken: 2:09
Flanken (inkl. Standards): 7:16
Ballbesitz (Anteil Zuspiele): 31% : 69%
Gewonnene Zweikämpfe am Ball in %: 51 : 49
Pässe (inkl. Standards): 63% : 83%
Pässe (inkl. Standards) in gegn. Hälfte: 50% : 72%
Fouls (inkl. Verbotenes Spiel): 15:14
Abseits: 1:2
Meiste Schüsse: Ibisevic (3) : Reus (7)
Meiste Torschussvorlagen: Didavi/Gentner (2) : Lewandowski (3)
Ballkontakte: Boka in seinem 150. VfB-Spiel (64) : Kehl/Hummels (95)
Meiste Fouls: Ibisevic/Rüdiger (3) : Kirch/Sokratis (4)
Gelbe Karten: Niedermeier (63., Foulspiel; der obligatorische Karton für „Schächter Schorsch“) - Kirch (35., gestrecktes Bein im Grasnarbenbereich bei gleichzeitiger Ballberührung), Großkreutz (90.+ 6, taktisches Foul)
Rote Karte: Niedermeier (67., Notbremse an Lewandowski)
Bes. Vorkommnis: Schiedsrichter Weiner musste verletzungsbedingt ausgewechselt werden und durch den ersten Assistenten Norbert Grudzinski ersetzt werden. Für diesen übernahm der 4. Offizielle Mike Pickel die Fahne (76.).
Malte D., 30.3.2014