Aufgeben? Alles geben! Jetzt erst recht!
Wolfsburg – BVB: Neven Subotic wird mit einem Kreuzbandriss ausgewechselt – Saisonaus. Auch wenn Marco Reus kurz darauf die Führung für die Borussia erzielt, geht das Spiel 2:1 verloren. Das wichtige Spiel gegen Arsenal verliert eine über weite Strecken des Spiels bessere Elf in schwatzgelb ebenfalls mit 0:1, die Woche ist gelaufen. Es folgt eine Länderspielpause vor dem Topspiel gegen den FC Bayern München. Im Spiel in Wembley verletzen sich sowohl Mats Hummels als auch Marcel Schmelzer. Ersterer wird in diesem Jahr nicht mehr gegen den Ball treten, die Nummer 29 fällt drei Wochen aus. Ja, die letzten Wochen waren aus Dortmunder Sicht sicherlich nicht angenehm. Nein, sie waren sogar richtig beschissen. Auch wenn Lukasz Piszczek mittlerweile auf dem Weg der Besserung ist und schon am Dienstag im Test gegen den SC Paderborn am Ball war, fehlt die komplette Defensivreihe, die Meisterschaften, Double- und Derbysiege feiern durfte. Die komplette Defensivreihe, die noch im Mai im Champions League Finale gegen die Bayern spielte. Und in den Fanforen tun sich Flintenwerfer und Weltuntergangsherbeisehner zusammen und verbreiten eine Stimmung, nach der die Saison schon gelaufen ist. Noch bevor überhaupt das Spiel gegen den FCB oder in der kommenden Woche auch gegen den SSC Neapel (ja, das Spiel gibt es auch noch), angepfiffen wird, werden Entschuldigungen gesucht, imaginäre Taschentücher weitergereicht, sodass man sich eine Frage immer und immer wieder stellt: Was ist eigentlich aus der Pott-typischen „Jetzt erst recht"-Einstellung geworden, die man auch in den letzten Jahren doch immer wieder an den Tag gelegt hat? Was ist aus dem Vertrauen in die restlichen Spieler der Mannschaft geworden, die schon häufig bewiesen hat, welche Rückschläge sie alles wegstecken kann? Wo sind die alten Tugenden hin, mit denen man in den letzten Jahren so gut gefahren ist?
Gehen wir doch einmal ein paar Jahre zurück. Als Jürgen Klopp im Jahr 2008 beim BVB anfing, war gerade die Zeit einer Innenverteidigung bestehend aus Christian Wörns und Robert Kovac zu Ende gegangen. Klopp setzte auf neue, junge, talentierte Spieler. Namen wie Neven Subotic und Mats Hummels (beide damals 19 Jahre alt) traten auf dem Plan, schnell titelte der Boulevard vom „Kinder-Riegel", der dann immer positiver in die öffentliche Wahrnehmung trat und schnell zu einer der besten Defensiven der Bundesliga avancierte. Damals musste Klopp aus der Not eine Tugend machen. Alte Innenverteidiger waren Auslaufmodelle, es musste Ersatz her. Viel Geld war nicht vorhanden, auch wenn man für Subotic immerhin einen Millionenbetrag hinlegen musste. Und dennoch: Klopp gab jungen Talenten die Chance, sich zu beweisen und diese bedankten sich beim Trainer mit tollen Leistungen. Und nun, fünf Jahre später, zeigt sich der Werdegang der beiden Spieler am besten darin, dass die Anhänger des Ballspielvereins verzweifeln, weil beide mehrere Monate fehlen. Zugegeben, die Rahmenbedingungen von 2008 und 2013 sind deutlich andere, aber wer sagt denn bitte, dass auch ein Koray Günter mit seinen 19 Lenzen oder ein Marian Sarr, gerade mal 18 Jahre jung, nicht für eine Überraschung sorgen können? Man mag entgegen bringen können, dass beide bei ihren letzten Auftritten für die U23 nicht unbedingt direkt vor Erstligapotential strotzten, aber es wird sicherlich auch Leute gegeben haben, die sich bei Subotic und Hummels ähnliche Fragen gestellt haben. Wer weiß, was so ein Sprung ins kalte Wasser alles so bewirken kann? Außerdem hat man mit Manuel Friedrich ja nun auch jemanden in der Hinterhand, der seine Bundesligatauglichkeit doch schon das eine oder andere Mal unter Beweis gestellt hat.
Und überhaupt, die schon angesprochene „Jetzt erst recht"-Einstellung... So oft wurde sie in den letzten Jahren an den Tag gelegt, so oft triumphierte man am Ende noch, als man mit dem Rücken zur Wand stand. Als Roman Weidenfeller beim Stand von 1:1 im Pokalfinale 2012 ausgewechselt wurde, warf niemand die Flinte ins Korn, sondern krempelte die Ärmel nach oben, dachte sich eben genau dieses „Jetzt erst recht" und spielte den FC Bayern an die Wand, zeigte ihm gar seine Grenzen auf. Am Ende stand es 5:2 und der BVB holte den DFB-Pokal nach 23 Jahren wieder nach Dortmund. Im Dezember zuvor war die Borussia mit ähnlichen personellen Problemen wie heute nach Düsseldorf gefahren, um dort im Achtelfinale gegen die Fortunen anzutreten. Nach 34 Minuten verabschiedete sich Patrick Owomoyela mit Gelb-Rot aus der Innenverteidigung, die dann auch nur provisorisch gefüllt wurde. Und dennoch machten die Schwatzgelben mit einer immensen Leidenschaft weiter, rangen sich in die Verlängerung und ins Elfmeterschießen – und gewannen dieses sogar. An das Spiel gegen Málaga muss ich wohl kaum erinnern, darüber wurde in der Vergangenheit ja genug geschrieben. Und auch in der mittlerweile ja doch irgendwie geschichtsträchtigen Partie gegen den VfB Stuttgart ließ sich der BVB nicht hängen, als er auf einmal nach Führung mit 2:3 im Hintertreffen lag. Auch wenn am Ende mit dem 4:4 nur ein Unentschieden stand, war dies eine Leistung der Moral, eine Leistung der Leidenschaft. Tugenden, die keine Verletzung entfernen kann.
Ja, natürlich tun die vielen Verletzungen weh. Und ja, natürlich machen sie die kommenden Wochen mit wichtigen Heimspielen gegen Bayern und Leverkusen in der Bundesliga und entscheidenden Partien in DFB-Pokal und Champions League ungleich schwerer. Aber Borussia wäre eben nicht Borussia, wenn man jetzt den Kopf hängen lassen würde. Jürgen Klopp wird schon wissen, wie er seine Mannschaft einzuschwören hat. Er wird wissen, wie man auf die Ausfälle taktisch reagieren kann – ob nun mit Sven Bender oder doch Manuel Friedrich neben Sokratis. Die Leidenschaft, die Moral, da bin ich mir beim Schreiben dieser Zeilen absolut sicher, werden weder Jürgen Klopp noch seine elf Spieler auf dem Rasen in den kommenden Wochen vermissen lassen. Ärmel hoch, kämpfen bis zum Umfallen und die nötigen Punkte einfahren. Jetzt erst recht.
Das gilt übrigens für die Spieler genauso wie für uns Fans. Wir müssen nach demselben Motto verfahren. Dann hat sich unsere Verteidigungsreihe eben „atomisiert", wie es Aki Watzke formulierte. Die Südtribüne steht immer noch an ihrem Fleck und hat immer noch die gleiche Kraft wie vor den Verletzungen. Dann muss eben jeder Einzelne, der auf der größten Stehtribüne Europas steht, noch ein wenig mehr aus sich heraus holen, um seine Mannschaft nach vorne zu brüllen. Es sind Wochen und Spiele wie die folgenden, in denen Mannschaften immer und immer wieder über sich hinaus wachsen und für die erstaunlichsten Resultate sorgen. In Spielen wie diesen werden mitunter schon einmal Helden geboren und Legenden geschrieben. Wer weiß, vielleicht hören wir in zehn Jahren noch die Leute reden: „Weißt du noch damals, als wir die Bayern geschlagen haben, ohne unsere gesamte Stamm-Defensive? Ha, das waren noch Zeiten!" Und wenn nicht, kann schließlich in der Winterpause immer noch gemeckert werden, dass die Verletzungen natürlich zu einem beschissenen Zeitpunkt kamen und die Ergebnisse deswegen nicht gestimmt haben. Aber vielleicht haben sie ja doch gestimmt, weil man sich eben wieder auf alte Tugenden besonnen hat. Auf Wille, Kampf, Einsatz und Leidenschaft. Sowohl auf dem Platz als auch drum herum. Ärmel hoch, anfeuern und die Mannschaft um jeden Preis unterstützen. Jetzt erst recht.
Vanni, 21.11.2013