Eua Senf | 20.12.2024
Erinnerung an Simon
Von Fans - Für Fans
Danke Fußball
Bringen wir das Unvermeindliche gleich zu Beginn hinter uns. Schreibt ein Fan über sein Leben, seine Liebe zum Fußball und seine ganz persönliche Beziehung zu seinem Verein, ist eins so sicher wie eine titellose Saison von Bayer Leverkusen: Irgendwo taucht ein Zitat aus Nick Hornbys Fanbibel „Fever Pitch“ auf.
Vielleicht ist es anmaßend, gleich zu Beginn genau die Zeilen zu nennen, mit denen auch der vielleicht bekannteste Arsenal-Fan sein Werk beginnt, so erscheinen sie mir auch als die passensten:
„Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.“
Großartige Zeilen, die viele Fans bedingungslos unterschreiben würden. Denke ich aber zurück an meine ersten Berührungspunkte mit dem Fußball, tauchen andere Gefühle auf. Hass ist ein Gefühl, dass ein Kind im Alter von vermutlich drei Jahren gottlob noch nicht empfinden kann, aber wenn ich damals die Worte schon gekannt hätte, hätte ich wohl eine herzliche Abneigung gegen diesen Sport empfunden. Damals gehörte der Sonntag dem Amateursport, mit einem Schlüssel öffnete man noch die Haustür, satt ihn in einen Premiere-Decoder zu stecken und um 18.00 Uhr lief die Sportschau. Ohne Werbeunterbrechung. Und vermutlich, so erzählen es zumindest die großen Alten der Tribüne, gab es nicht einmal von allen Spielen bewegte Bilder. Und trotzdem war sie mir ein Dorn im Auge. Sie hielt Papa nämlich davon ab, mit seinem Sohnemann zu spielen. Ich konnte noch nicht verstehen, was daran faszinierender sein sollte, als mit Legosteinen eine eigene Welt zu bauen, oder mit Buntstiften ein Blatt Papier zu füllen (glücklich das Alter, in dem sowas noch als wundervolles Weihnachtsgeschenk durchgeht) und ahnte noch nichts von der ganz eigenen Fußballwelt, die mein Vater jeden Samstag Abend betrat und die auf mich wartete. Kurz und knapp: Fußball war in meiner Kindheit eher ein Störfaktor.
Schon paradox, dass ausgerechnet dieser Störfaktor in meinem weiteren Leben einen sehr großen Teil meiner sozialen Bindungen ausmachen sollte. Fußball als Gesprächsthema, Fußball als Möglichkeit auf bescheuert klischeehaft-maskuline Art Emotionen mit anderen Menschen zu teilen und nicht zuletzt Fußball als Brücke zwischen Bekanntschaften zu Freundschaften.
Das alles entwickelt sich langsam. Ich habe mich nicht „plötzlich“ und bedingungslos in diesen Sport verliebt. Wenn Hornby diese Entwicklung mit der Liebe zu einer Frau vergleicht, dann würde ich eher eine klassische Suchtkarriere herbei ziehen. Erst probiert man, dann nimmt man es häufiger – und irgendwann steht man bei Regenwetter auf einem Ascheplatz der Kreisliga, weil man Fußball gucken möchte.
Mein Anfixpunkt sozusagen war mein erster Stadionbesuch. Heute schäme ich mich fast für meine damaligen Geschmacksverirrungen, ich hegte nämlich leichte Sympathien für Borussia Mönchengladbach. „Der Mythos“ war damals noch mehr als eine Zaunfahne, der Glanz der 70er Jahre noch nicht völlig verblasst. Mein erstes Spiel im Stadion hatte allerdings nicht mit den Fohlen zu tun – Werder Bremen gegen die Stuttgarter Kickers. Vermutlich war es die Saison 1988/1989, die Auswahl von Partien der ersten Bundesliga mit Beteiligung der Kickers ist recht überschaubar, ich war also irgendwas um die 10 Jahre alt. Alles ein Produkt des Zufalls. Ein Wochenende bei der Verwandschaft Nähe Bremen führte irgendwie dazu, dass ich mich auf der zugigen Haupttribüne des alten Weserstadions wiederfand. So genau kann ich nicht mehr rekonstruieren, wie das passiert ist. Ich erinnere mich an eine Dauerkarte, die durch einen Bauzaun nach draußen gereicht wurde und das man mich irgendwie durch den Eingang geschoben hat. Heutige Funktionäre und Politiker wären bei solchen Einlasspraktiken vermutlich dem Herzinfarkt nahe. Das Spiel endete 6:1, Rune Bratseth schoß unter anderem ein Tor per Elfmeter. Belanglose Bundesligageschichte, aber für mich das größte und bis heute unvergessene Ereignis in meinem jungen Leben. „Rune, Rune“ - das Brüllen der Tribüne, während der Norweger zum Punkt schreitet, hallt bis heute nach.
Von da an war ich schlagartig Fan der Mannschaft von der Weser. Für den Rest meines Lebens. Oder eher für wenige Monate. Bis eine in schwarz und gelb gekleidete Mannschaft aus der Nachbarschaft eben diese Werdermannschaft im Berliner Pokalendspiel deutlich und mit nie gekannter Leidenschaft mit 4:1 besiegte. Ja, ich bin ein Erfolgsfan. Natürlich würde ich viel lieber eine coole Geschichte erzählen, wie ich bei Schnee und Minustemperaturen eine heftige Niederlage gegen einen unterklassigen Gegner erlebt und mich dabei trotzdem in Borussia verliebt habe. Die nackte Wahrheit ist aber, dass ich einen großen Erfolg bequem im Fernsehen verfolgt habe und dabei meine Leidenschaft für diesen Verein geweckt wurde.
Vielleicht zeigt das schon, wie komplex die Beziehung eines Fans zum Fußball eigentlich ist. Wenn ich meine Borussia spielen sehe, dann fesselt mich das Spiel so, wie es keine andere Mannschaft kann. Geschossene Tore katapultieren Glückshormone durch den Körper, Tore des Gegner sind ein Schlag in die Magengrube. Bei knappen Führungen senkt sich mein Blick in den Schlussminuten auf die Fußspitzen. Was ich nicht sehe, das passiert auch nicht. Elfmeterschießen bereiten mir körperliche Qualen, so dass ich sie lieber außerhalb des Blocks nicht verfolge und dabei hoffe, dass später lauter glücklich grinsende Menschen herausströmen und mir signalisieren, dass alles gut ist. Verrückt, irrational und kindlich.
Und trotzdem: Gäbe es den BVB nicht, wäre ich mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit immer noch Fußballfan – andersherum funktioniert die Gleichung aber bei mir nicht. Borussia ist alles, die unerklärliche Liebe. DER Fußball aber gleichzeitig auch. Auch ohne das Gefühlschaos, das während eines Spiels meines Vereins herrscht, liebe ich diesen Sport in all seinen Facetten. Das hochklassige Spiel europäischer Spitzenmannschaften im TV wird ebenso genossen, wie die bratwurtsduftgeschwängerte Luft des Amateurfußballs, wo selbsternannte Talente den Ball per Hacke elegant ins Nirgendwo verlängern und ansonsten das brachiale Langholz herrscht. Die große Welt der Superstars und die kleinen Plätze, wo man das knallende Geräusch eine Pressschlags und die gegenseitigen Anweisungen der Spieler vernehmen kann. Es gehört alles zusammen, es ist alles wundervoll und doch verschieden.
Würde ich Hornbys Zitat auf mich umwandeln, klänge der Vergleich brutal weniger romatisch und blumig: Dass zwar nur meine Frau mein Leben richtig bereichert und tiefe Gefühle weckt, ich aber gleichzeitig auch wahllos mit allen anderen, angefangen von der plumpen Dorfpomeranze bis hin zur Luxustussi, in die Kiste hüpfe – weil ich Frauen allgemein liebe. Prosaisch geht anders.
Und dennoch möchte ich es nicht anders, weil es mich auch zu einem guten Stück zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin. Die Bedeutung des Fußballs für mein Leben geht über 90 Minuten auf dem Platz hinaus. Er hat mich geprägt und bereichert. Wie sehr, das erfährt man manchmal leider nur im Nachgang. War der Fußball anfangs der erwähnte Störfaktor, wurde er im Laufe der Jahre zum Bindeglied zwischen meinem Vater und mir. Kindheit ist nicht immer kitschig schön wie in einem Jugendroman, sondern manchmal ziemlich hässlich. Die Eltern trennen sich und gehen ihre eigenen Wege. Wobei ich noch das Glück hatte, dass alles ziemlich sauber ablief und es nie Streit um Besuchsrechte und -zeiten gab. Ziemlich schnell etablierte sich dann jeden zweiten Sonntag das Ritual des gemeinsamen Stadionbesuches. Herringer SV in einem wunderschönen, alten Stadion. Das „Glück Auf“-Stadion hatte mit Sicherheit schon bessere Tage gesehen. Tage, in denen man um den Aufstieg in die Oberliga spielte und Spiele, die in der verklärten Sicht der späteren Zeiten, von 10.000 Zuschauern besucht wurden. Zuschauer, die sich auf den Stufen drängelten, die zu meiner Zeit größtenteils von Gräsern und Unkraut bevölkert wurden.
Der urtürmliche und romantische Fußball, von dem viele Menschen heute noch träumen, ist für mich immer mit diesem Stadion verbunden. Mit einer Bratwurts vom Holzkohlegrill. Mit einem Pulk von Rentnern, die mit losem Mundwerk das Spiel kommentieren und Namen wie Heinz oder Jupp haben. Erzählungen von früher, als bei Ortsderbys sogar die Omas mit Regenschirmen aufeinander losgegangen sind. Mit Spielen, bei denen man vor plötzlich einsetzenden Regengüssen nur die Möglichkeit hatte, unter eine Baumreihe zu flüchten.
Dabei bin ich realistisch genug, um zu erkennen, dass auch an diesem Ort der Fußball nicht mehr ganz so unschuldig war. Schon in der Bezirksliga wechseln Spieler, weil die örtliche Handwerkerinnung mal ein größeres Bündel Geld in die Hand nimmt. Und es gab mehr als eine Spielzeit, wo man nach drei Vierteln der Saison vorne stand, ernsthaft Gefahr lief, in eine höhere und teurere Spielklasse aufzusteigen und die dann mit einem unerklärlichen Leistungsabfall endeten. Und dennoch, diese Spiele hatten ihren eigenen Zauber.
Es waren gute, glückliche Jahre auf dem Sportplatz. Aber es ist wie es ist und die Zeiten ändern sich. Man wird älter, geht eigene Wege. Ein anderer Wohnort, eigene Auswärtsfahrten. Ja, selbst der Verein veränderte sich. Der Herringer SV ging mit dem Ortrivalen Fortuna zum SVF zusammen und das schöne, alte Glück-Auf-Stadion verfällt, da man jetzt in einem Neubau kickt. Die Sonntage mit meinem Papa wurden immer seltener. Wir waren beide nie die Typen, die groß ihre Gefühle zeigen und ständig darüber reden. Aber der Fußball war das, was uns verbunden hat. Auf dem Sportplatz zu stehen, anfangen über das Spiel zu philosophieren und sich dabei darüber auszutauschen, was man in der letzten Zeit erlebt, welche Pläne man hat. Nähe und Gemeinschaft zu leben. Der Fußball hat uns beiden die Basis dafür gegeben.
Heute gehe ich immer noch zum Fußball. Ich liebe es immer noch, an einem Sonntag in der Sonne zu stehen und mehr engagierten als talentierten Amteurspielern beim Kicken zuzusehen. Nur in Herringen war ich seit anderthalb Jahren nicht mehr. Damals ist mein Vater gestorben und es wäre nicht mehr das selbe, diesen Platz zu besuchen. Er hat eine besondere Bedeutung für mich und ist untrennbar mit dem schmerzlichen Gefühl des Verlustes verbunden. Das Leben ist nicht immer eine bunte, lustige Auswärtstour.
An dieser Stelle fällt es mir schwer, wieder die Kurve zu kriegen, aber das Spiel geht weiter. Viele der Sonntag auf den Bezirksportanlagen wurden ersetzt durch Sonntage in den modernen Stadien des Profifußballs. Und wie meine generelle „Entwicklung“ zum Fußballfan war auch das eher ein schleichender, langfristiger Prozess. Das Westfalenstadion wurde damals noch umgebaut, an die Ecken haben allerhöchstens die Herren Niebaum und Meier vielleicht mal gedacht. Tickets im Internet bestellen? Was zur Hölle ist ein Internet? Mehr als 15 Jahre ist das jetzt her. Es war meine spätere Schulzeit auf dem Gymnasium. Ein Schulkollege hatte einen Kollegen, der in einem Fanclub war und wenn beide nicht konnten, hatte ich ab und zu das Glück, hinfahren zu können. Später dann die Ausbildungszeit, wo es nicht nur endlich mal eigenes Geld, sondern mittlerweile auch mehr Tickets für das Stadion gab. Ich tingelte vier oder fünf Mal pro Saison über die Tribünen des Westfalenstadions. Champions-League gegen Arsenal auf der Nord, Bundesliga gegen 1860 auf der Westtribüne ganz oben, letzte Reihe unter dem Dach. Ein Spiel gegen den HSV sogar im Gästeblock, weil ein Kollege die Karten besorgt hatte. Es wäre nett gewesen, wenn er mir diesen kleinen Umstand vorher gesagt hätte. Hamburg und Dortmund war in meiner Wahrnehmung zwar nie wirklich aggressiv, aber ich kann voll und ganz verstehen, dass man nicht besonders glücklich über einen Dortmunder in voller Montur war. Ja, volle Montur. Für mich gehörten damals drei Schals am Gürtel, ein Trikot und eine Kordel am Handgelenk dazu. Wenn ich daran denke, habe ich genau das gleiche Gefühl wie jemand, der im Fotoalbum schmökert und sich denkt: „Wie konntest du nur sowas anziehen?“.
Die Ecken wurden ausgebaut und bis heute sitze ich da auf meinem Platz. Um mich herum viele Leute, denen es auch so geht und die zu vertrauten Gesichtern geworden sind. Man kennt voneinander nicht wesentlich mehr als die Namen, aber das reicht auch. Für 90 Minuten Heimspiel fühlt man sich einander so verbunden wie nur möglich. Und da das alles irgendwann nicht mehr ausreicht, fährt man eben auch auswärts. Ein Prozess im Schnelldurchlauf, der eigentlich mehr als 10 Jahre dauerte.
Im Nachhinein denke ich, dass diese Zeit des „Reinwachsens“ vielleicht die schönste war, weil sie vor allem von Naivität geprägt war. Meine Informationen rund um den Verein und den Sport bezog aus den Medien. Aus dem TV und dem Fernsehen. Von Quellen also, die selbst ganz gut mit und vom Fußball lebten und nur wenig Interesse daran zeigten, Risse in die heile Welt zu zeichnen. Kein Wunder, dass von vielen Seiten auch die drohende Insolvenz des BVB eher zögerlich angegangen und erst so richtig thematisiert wurde, als die Schieflage nicht mehr zu leugnen war. Bis dahin bestand meine Fußballwelt aus Spielberichterstattung, Transfergerüchten und handelsüblichen Skandalen und Skandälchen. Plüschig, bequem und mit genau so vielen hässlichen Flecken versehen, um interessant zu sein, ohne zu verschrecken. Der Horziont ging nicht weit über die 90 Minuten auf dem Platz hinaus. Spiele wurden gewonnen, Spiele wurden verloren – die persönliche Stimmungslage hing im wesentlichen davon ab. Ich habe mich kaum dafür interessiert, was in meinem Verein und auf den Tribünen vor sich ging. Von Stadionverboten hatte ich gerade einmal gehört, dass es sie gibt. Die Ticketpreise spielten bei nur gelegentlichen Besuchen auch eher ein untergeordnete Rolle.
Wenn man im Fernsehen Fans sieht, dann werden fast ausschließlich als Menschen mit merkwürdigen Hüten und mit Schals behangen gezeigt, die im Hintergrund in die Kamera gröhlen. Menschen, die in Halbzeitspielchen „Fanpakete“ gewinnen, die aus Rasseln und Krimskams bestehen. Damals war genau das mein Bild vom Fansein und in gewisser Weise ist das auch eine schöne und unvoreingenommene Art, den Fußball zu genießen. Je mehr man sich nämlich mit dem Themenfeld der Fanpolitik beschäftigt, desto mehr mischt sich auch der Frust in den Fanalltag. Der Fußball wandelt sich. Er wird größer, bedeutender und vor allem wirtschaftlicher. Neue Interessensgruppen betreten das Spielfeld und versuchen, es zu ihren Gunsten zu wandeln. Das geschieht im kleinen auf der Vereinsebene und im Fußball global. Dass es zu Spannungen kommt, wenn diese unterschiedlichen Interessen aufeinander treffen, ist natürlich. Als Fan beschleicht mich mittlerweile allerdings das dumme Gefühl, irgendwie auf der Seite der Verlierer gelandet zu sein. Man engagiert sich für einen kleinen Erfolg, dass bei einem Verein ein Topspielzuschlag zumindest auf den Stehplätzen entfällt, nur um dann feststellen zu müssen, dass beim nächsten Spiel das Preisniveau insgesamt erhöht wurde. Man setzt sich vehement für den Erhalt der 50+1-Regel ein und am Ende steht ein Kompromiss, der langfristig diese Regelung aushebeln wird. Bei der aktuellen Debatte um die Sicherheitspolitik gelang es gerade einmal, Maximalforderungen abzuwehren. Das ist an sich schon ein Erfolg, aber andererseits auch zu wenig, um zufrieden zu sein. Rückzugsgefechte, bei denen man den einen großen Schritt nach hinten durch viele kleinerer ersetzt. Zugeständnisse der Vereine und Verbände, die gerade groß genug sind, um das Fünkchen Hoffnung, dass man selbst die Richtung mitbestimmt, am leuchten zu halten, ohne den Kurs wirklich zu verändern.
Es ist ermüdend und mein Respekt ist grenzenlos für die Leute, die sich trotzdem immer wieder aufrappeln und weitermachen, anstatt zu resignieren. Dabei wäre es so verlockend, sich einfach zu ergeben und den Fußball wieder auf die Frage zu reduzieren, wer in der nächsten Saison Meister wird, anstatt sich darum zu kümmern, wie der Fußball in 10 Jahren aussieht.
Und trotzdem, nicht mehr zum Fußball zu gehen, ist keine Option. Manchmal spielt man mit dem Gedanken, aber für mich selbst ist eigentlich gar nicht abschätzbar, wie sich ein Leben ohne Fußball anfühlen würde. Zuerst einmal liebe ich den Sport an sich. Er ist so herrlich simpel, dass sogar ich ihn verstehe. Nicht auf eine Ralf-Rangnick-Art, mit der ich die tollsten taktischen Kniffe an eine Tafel zaubern könnte, sondern auf eine intuitive. Sehe ich ein Handballspiel, das 25:24 ausgeht, weiß ich nicht, ob ich ein gutes Spiel gesehen habe, bei einem Fußballspiel kann ich ein 1:0 sehr wohl einordnen. Mit Sicherheit reicht das alles nicht für bedeutungsschwangere Analysen, aber um Fußball zu verfolgen, genügt ein wenig Basiswissen. Er bietet Rustikales und Feines, Tempo und Spannung, Überraschungen und Unvermeindliches. Manchmal ist er ästehtisch, manchmal hässlich, aber niemals wirklich belanglos. Das Spiel an sich ist toll, anders kann ich die Faszination des Fußballsports nicht beschreiben.
Und natürlich spielt die Emotionalität eine eminent wichtige Rolle. Ich glaube, für viele Fans ist Fußball einfach wichtig für das seelische Gleichgewicht. Er befriedigt Grundbedürfnisse nach Gemeinschaft und gibt die Möglichkeit, Gefühlsextreme auszuleben. Das Feiern von Siegen ist dabei genau so wichtig wie das Durchleben bitterer Niederlagen. In Bielefeld schallte es vor Spielbeginn„Wir steigen niemals ab, òle, òle“ aus dem Gästeblock. Nach dem Abpfiff schlichen die meisten mit gesenkten Köpfen aus dem Stadion. Und ja, manch einer hatte Tränen in den Augen. Vor anderen Menschen Schwäche zeigen, ohne das man sich dafür schämen muss. Wo gibt es sonst noch die Möglichkeit dazu? Ein Lied gemeinsam mit vielen tausend anderen zu singen und sich als Teil einer großen Gruppe zu fühlen, die einen nicht ausgrenzt und in der zumindest am Spieltag nur die Begeisterung für die eigene Mannschaft für die Aufnahme in diese Gruppe zählt.
Man kann Schreien, Toben, Hübfen, Jubeln, Schimpfen – das zum Ausdruck bringen, was man gerade fühlt. Alles rauslassen, was im Alltag oftmals unter einem Haufen von Kompromissen, Gepflogenheiten und Rücksichtnahme begraben wird. Ein Ventil, um Dampf abzulassen; aus sich herausgehen, ohne dass jemand Anstoß daran nimmt. Egal wie schlecht das Spiel war, irgendwie geht es mir danach doch ein Stückchen besser.
Ich weiß selbst nicht, ob ich da nicht zuviel hineininterpretiere, aber zumindest glaube ich, dass der Fußball mich auch ein Stück weit geprägt hat. Er hat mir Freude und auch schlechte Stunden bescherrt. Er hat mich aber auch anderen Menschen näher gebracht, zu neuen Freundschaften geführt und bei manchen Dingen auch Sichtweisen verändert. Und das Schöne an diesem Sport ist, dass ich nicht weiß, wohin er mich noch überall führt. Ich weiß nur: ich freu mich drauf.
Danke Fußball – bleib so wie du bist.
Vielleicht ist es anmaßend, gleich zu Beginn genau die Zeilen zu nennen, mit denen auch der vielleicht bekannteste Arsenal-Fan sein Werk beginnt, so erscheinen sie mir auch als die passensten:
„Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.“
Großartige Zeilen, die viele Fans bedingungslos unterschreiben würden. Denke ich aber zurück an meine ersten Berührungspunkte mit dem Fußball, tauchen andere Gefühle auf. Hass ist ein Gefühl, dass ein Kind im Alter von vermutlich drei Jahren gottlob noch nicht empfinden kann, aber wenn ich damals die Worte schon gekannt hätte, hätte ich wohl eine herzliche Abneigung gegen diesen Sport empfunden. Damals gehörte der Sonntag dem Amateursport, mit einem Schlüssel öffnete man noch die Haustür, satt ihn in einen Premiere-Decoder zu stecken und um 18.00 Uhr lief die Sportschau. Ohne Werbeunterbrechung. Und vermutlich, so erzählen es zumindest die großen Alten der Tribüne, gab es nicht einmal von allen Spielen bewegte Bilder. Und trotzdem war sie mir ein Dorn im Auge. Sie hielt Papa nämlich davon ab, mit seinem Sohnemann zu spielen. Ich konnte noch nicht verstehen, was daran faszinierender sein sollte, als mit Legosteinen eine eigene Welt zu bauen, oder mit Buntstiften ein Blatt Papier zu füllen (glücklich das Alter, in dem sowas noch als wundervolles Weihnachtsgeschenk durchgeht) und ahnte noch nichts von der ganz eigenen Fußballwelt, die mein Vater jeden Samstag Abend betrat und die auf mich wartete. Kurz und knapp: Fußball war in meiner Kindheit eher ein Störfaktor.
Schon paradox, dass ausgerechnet dieser Störfaktor in meinem weiteren Leben einen sehr großen Teil meiner sozialen Bindungen ausmachen sollte. Fußball als Gesprächsthema, Fußball als Möglichkeit auf bescheuert klischeehaft-maskuline Art Emotionen mit anderen Menschen zu teilen und nicht zuletzt Fußball als Brücke zwischen Bekanntschaften zu Freundschaften.
Das alles entwickelt sich langsam. Ich habe mich nicht „plötzlich“ und bedingungslos in diesen Sport verliebt. Wenn Hornby diese Entwicklung mit der Liebe zu einer Frau vergleicht, dann würde ich eher eine klassische Suchtkarriere herbei ziehen. Erst probiert man, dann nimmt man es häufiger – und irgendwann steht man bei Regenwetter auf einem Ascheplatz der Kreisliga, weil man Fußball gucken möchte.
Mein Anfixpunkt sozusagen war mein erster Stadionbesuch. Heute schäme ich mich fast für meine damaligen Geschmacksverirrungen, ich hegte nämlich leichte Sympathien für Borussia Mönchengladbach. „Der Mythos“ war damals noch mehr als eine Zaunfahne, der Glanz der 70er Jahre noch nicht völlig verblasst. Mein erstes Spiel im Stadion hatte allerdings nicht mit den Fohlen zu tun – Werder Bremen gegen die Stuttgarter Kickers. Vermutlich war es die Saison 1988/1989, die Auswahl von Partien der ersten Bundesliga mit Beteiligung der Kickers ist recht überschaubar, ich war also irgendwas um die 10 Jahre alt. Alles ein Produkt des Zufalls. Ein Wochenende bei der Verwandschaft Nähe Bremen führte irgendwie dazu, dass ich mich auf der zugigen Haupttribüne des alten Weserstadions wiederfand. So genau kann ich nicht mehr rekonstruieren, wie das passiert ist. Ich erinnere mich an eine Dauerkarte, die durch einen Bauzaun nach draußen gereicht wurde und das man mich irgendwie durch den Eingang geschoben hat. Heutige Funktionäre und Politiker wären bei solchen Einlasspraktiken vermutlich dem Herzinfarkt nahe. Das Spiel endete 6:1, Rune Bratseth schoß unter anderem ein Tor per Elfmeter. Belanglose Bundesligageschichte, aber für mich das größte und bis heute unvergessene Ereignis in meinem jungen Leben. „Rune, Rune“ - das Brüllen der Tribüne, während der Norweger zum Punkt schreitet, hallt bis heute nach.
Von da an war ich schlagartig Fan der Mannschaft von der Weser. Für den Rest meines Lebens. Oder eher für wenige Monate. Bis eine in schwarz und gelb gekleidete Mannschaft aus der Nachbarschaft eben diese Werdermannschaft im Berliner Pokalendspiel deutlich und mit nie gekannter Leidenschaft mit 4:1 besiegte. Ja, ich bin ein Erfolgsfan. Natürlich würde ich viel lieber eine coole Geschichte erzählen, wie ich bei Schnee und Minustemperaturen eine heftige Niederlage gegen einen unterklassigen Gegner erlebt und mich dabei trotzdem in Borussia verliebt habe. Die nackte Wahrheit ist aber, dass ich einen großen Erfolg bequem im Fernsehen verfolgt habe und dabei meine Leidenschaft für diesen Verein geweckt wurde.
Vielleicht zeigt das schon, wie komplex die Beziehung eines Fans zum Fußball eigentlich ist. Wenn ich meine Borussia spielen sehe, dann fesselt mich das Spiel so, wie es keine andere Mannschaft kann. Geschossene Tore katapultieren Glückshormone durch den Körper, Tore des Gegner sind ein Schlag in die Magengrube. Bei knappen Führungen senkt sich mein Blick in den Schlussminuten auf die Fußspitzen. Was ich nicht sehe, das passiert auch nicht. Elfmeterschießen bereiten mir körperliche Qualen, so dass ich sie lieber außerhalb des Blocks nicht verfolge und dabei hoffe, dass später lauter glücklich grinsende Menschen herausströmen und mir signalisieren, dass alles gut ist. Verrückt, irrational und kindlich.
Und trotzdem: Gäbe es den BVB nicht, wäre ich mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit immer noch Fußballfan – andersherum funktioniert die Gleichung aber bei mir nicht. Borussia ist alles, die unerklärliche Liebe. DER Fußball aber gleichzeitig auch. Auch ohne das Gefühlschaos, das während eines Spiels meines Vereins herrscht, liebe ich diesen Sport in all seinen Facetten. Das hochklassige Spiel europäischer Spitzenmannschaften im TV wird ebenso genossen, wie die bratwurtsduftgeschwängerte Luft des Amateurfußballs, wo selbsternannte Talente den Ball per Hacke elegant ins Nirgendwo verlängern und ansonsten das brachiale Langholz herrscht. Die große Welt der Superstars und die kleinen Plätze, wo man das knallende Geräusch eine Pressschlags und die gegenseitigen Anweisungen der Spieler vernehmen kann. Es gehört alles zusammen, es ist alles wundervoll und doch verschieden.
Würde ich Hornbys Zitat auf mich umwandeln, klänge der Vergleich brutal weniger romatisch und blumig: Dass zwar nur meine Frau mein Leben richtig bereichert und tiefe Gefühle weckt, ich aber gleichzeitig auch wahllos mit allen anderen, angefangen von der plumpen Dorfpomeranze bis hin zur Luxustussi, in die Kiste hüpfe – weil ich Frauen allgemein liebe. Prosaisch geht anders.
Und dennoch möchte ich es nicht anders, weil es mich auch zu einem guten Stück zu dem Menschen gemacht hat, der ich heute bin. Die Bedeutung des Fußballs für mein Leben geht über 90 Minuten auf dem Platz hinaus. Er hat mich geprägt und bereichert. Wie sehr, das erfährt man manchmal leider nur im Nachgang. War der Fußball anfangs der erwähnte Störfaktor, wurde er im Laufe der Jahre zum Bindeglied zwischen meinem Vater und mir. Kindheit ist nicht immer kitschig schön wie in einem Jugendroman, sondern manchmal ziemlich hässlich. Die Eltern trennen sich und gehen ihre eigenen Wege. Wobei ich noch das Glück hatte, dass alles ziemlich sauber ablief und es nie Streit um Besuchsrechte und -zeiten gab. Ziemlich schnell etablierte sich dann jeden zweiten Sonntag das Ritual des gemeinsamen Stadionbesuches. Herringer SV in einem wunderschönen, alten Stadion. Das „Glück Auf“-Stadion hatte mit Sicherheit schon bessere Tage gesehen. Tage, in denen man um den Aufstieg in die Oberliga spielte und Spiele, die in der verklärten Sicht der späteren Zeiten, von 10.000 Zuschauern besucht wurden. Zuschauer, die sich auf den Stufen drängelten, die zu meiner Zeit größtenteils von Gräsern und Unkraut bevölkert wurden.
Der urtürmliche und romantische Fußball, von dem viele Menschen heute noch träumen, ist für mich immer mit diesem Stadion verbunden. Mit einer Bratwurts vom Holzkohlegrill. Mit einem Pulk von Rentnern, die mit losem Mundwerk das Spiel kommentieren und Namen wie Heinz oder Jupp haben. Erzählungen von früher, als bei Ortsderbys sogar die Omas mit Regenschirmen aufeinander losgegangen sind. Mit Spielen, bei denen man vor plötzlich einsetzenden Regengüssen nur die Möglichkeit hatte, unter eine Baumreihe zu flüchten.
Dabei bin ich realistisch genug, um zu erkennen, dass auch an diesem Ort der Fußball nicht mehr ganz so unschuldig war. Schon in der Bezirksliga wechseln Spieler, weil die örtliche Handwerkerinnung mal ein größeres Bündel Geld in die Hand nimmt. Und es gab mehr als eine Spielzeit, wo man nach drei Vierteln der Saison vorne stand, ernsthaft Gefahr lief, in eine höhere und teurere Spielklasse aufzusteigen und die dann mit einem unerklärlichen Leistungsabfall endeten. Und dennoch, diese Spiele hatten ihren eigenen Zauber.
Es waren gute, glückliche Jahre auf dem Sportplatz. Aber es ist wie es ist und die Zeiten ändern sich. Man wird älter, geht eigene Wege. Ein anderer Wohnort, eigene Auswärtsfahrten. Ja, selbst der Verein veränderte sich. Der Herringer SV ging mit dem Ortrivalen Fortuna zum SVF zusammen und das schöne, alte Glück-Auf-Stadion verfällt, da man jetzt in einem Neubau kickt. Die Sonntage mit meinem Papa wurden immer seltener. Wir waren beide nie die Typen, die groß ihre Gefühle zeigen und ständig darüber reden. Aber der Fußball war das, was uns verbunden hat. Auf dem Sportplatz zu stehen, anfangen über das Spiel zu philosophieren und sich dabei darüber auszutauschen, was man in der letzten Zeit erlebt, welche Pläne man hat. Nähe und Gemeinschaft zu leben. Der Fußball hat uns beiden die Basis dafür gegeben.
Heute gehe ich immer noch zum Fußball. Ich liebe es immer noch, an einem Sonntag in der Sonne zu stehen und mehr engagierten als talentierten Amteurspielern beim Kicken zuzusehen. Nur in Herringen war ich seit anderthalb Jahren nicht mehr. Damals ist mein Vater gestorben und es wäre nicht mehr das selbe, diesen Platz zu besuchen. Er hat eine besondere Bedeutung für mich und ist untrennbar mit dem schmerzlichen Gefühl des Verlustes verbunden. Das Leben ist nicht immer eine bunte, lustige Auswärtstour.
An dieser Stelle fällt es mir schwer, wieder die Kurve zu kriegen, aber das Spiel geht weiter. Viele der Sonntag auf den Bezirksportanlagen wurden ersetzt durch Sonntage in den modernen Stadien des Profifußballs. Und wie meine generelle „Entwicklung“ zum Fußballfan war auch das eher ein schleichender, langfristiger Prozess. Das Westfalenstadion wurde damals noch umgebaut, an die Ecken haben allerhöchstens die Herren Niebaum und Meier vielleicht mal gedacht. Tickets im Internet bestellen? Was zur Hölle ist ein Internet? Mehr als 15 Jahre ist das jetzt her. Es war meine spätere Schulzeit auf dem Gymnasium. Ein Schulkollege hatte einen Kollegen, der in einem Fanclub war und wenn beide nicht konnten, hatte ich ab und zu das Glück, hinfahren zu können. Später dann die Ausbildungszeit, wo es nicht nur endlich mal eigenes Geld, sondern mittlerweile auch mehr Tickets für das Stadion gab. Ich tingelte vier oder fünf Mal pro Saison über die Tribünen des Westfalenstadions. Champions-League gegen Arsenal auf der Nord, Bundesliga gegen 1860 auf der Westtribüne ganz oben, letzte Reihe unter dem Dach. Ein Spiel gegen den HSV sogar im Gästeblock, weil ein Kollege die Karten besorgt hatte. Es wäre nett gewesen, wenn er mir diesen kleinen Umstand vorher gesagt hätte. Hamburg und Dortmund war in meiner Wahrnehmung zwar nie wirklich aggressiv, aber ich kann voll und ganz verstehen, dass man nicht besonders glücklich über einen Dortmunder in voller Montur war. Ja, volle Montur. Für mich gehörten damals drei Schals am Gürtel, ein Trikot und eine Kordel am Handgelenk dazu. Wenn ich daran denke, habe ich genau das gleiche Gefühl wie jemand, der im Fotoalbum schmökert und sich denkt: „Wie konntest du nur sowas anziehen?“.
Die Ecken wurden ausgebaut und bis heute sitze ich da auf meinem Platz. Um mich herum viele Leute, denen es auch so geht und die zu vertrauten Gesichtern geworden sind. Man kennt voneinander nicht wesentlich mehr als die Namen, aber das reicht auch. Für 90 Minuten Heimspiel fühlt man sich einander so verbunden wie nur möglich. Und da das alles irgendwann nicht mehr ausreicht, fährt man eben auch auswärts. Ein Prozess im Schnelldurchlauf, der eigentlich mehr als 10 Jahre dauerte.
Im Nachhinein denke ich, dass diese Zeit des „Reinwachsens“ vielleicht die schönste war, weil sie vor allem von Naivität geprägt war. Meine Informationen rund um den Verein und den Sport bezog aus den Medien. Aus dem TV und dem Fernsehen. Von Quellen also, die selbst ganz gut mit und vom Fußball lebten und nur wenig Interesse daran zeigten, Risse in die heile Welt zu zeichnen. Kein Wunder, dass von vielen Seiten auch die drohende Insolvenz des BVB eher zögerlich angegangen und erst so richtig thematisiert wurde, als die Schieflage nicht mehr zu leugnen war. Bis dahin bestand meine Fußballwelt aus Spielberichterstattung, Transfergerüchten und handelsüblichen Skandalen und Skandälchen. Plüschig, bequem und mit genau so vielen hässlichen Flecken versehen, um interessant zu sein, ohne zu verschrecken. Der Horziont ging nicht weit über die 90 Minuten auf dem Platz hinaus. Spiele wurden gewonnen, Spiele wurden verloren – die persönliche Stimmungslage hing im wesentlichen davon ab. Ich habe mich kaum dafür interessiert, was in meinem Verein und auf den Tribünen vor sich ging. Von Stadionverboten hatte ich gerade einmal gehört, dass es sie gibt. Die Ticketpreise spielten bei nur gelegentlichen Besuchen auch eher ein untergeordnete Rolle.
Wenn man im Fernsehen Fans sieht, dann werden fast ausschließlich als Menschen mit merkwürdigen Hüten und mit Schals behangen gezeigt, die im Hintergrund in die Kamera gröhlen. Menschen, die in Halbzeitspielchen „Fanpakete“ gewinnen, die aus Rasseln und Krimskams bestehen. Damals war genau das mein Bild vom Fansein und in gewisser Weise ist das auch eine schöne und unvoreingenommene Art, den Fußball zu genießen. Je mehr man sich nämlich mit dem Themenfeld der Fanpolitik beschäftigt, desto mehr mischt sich auch der Frust in den Fanalltag. Der Fußball wandelt sich. Er wird größer, bedeutender und vor allem wirtschaftlicher. Neue Interessensgruppen betreten das Spielfeld und versuchen, es zu ihren Gunsten zu wandeln. Das geschieht im kleinen auf der Vereinsebene und im Fußball global. Dass es zu Spannungen kommt, wenn diese unterschiedlichen Interessen aufeinander treffen, ist natürlich. Als Fan beschleicht mich mittlerweile allerdings das dumme Gefühl, irgendwie auf der Seite der Verlierer gelandet zu sein. Man engagiert sich für einen kleinen Erfolg, dass bei einem Verein ein Topspielzuschlag zumindest auf den Stehplätzen entfällt, nur um dann feststellen zu müssen, dass beim nächsten Spiel das Preisniveau insgesamt erhöht wurde. Man setzt sich vehement für den Erhalt der 50+1-Regel ein und am Ende steht ein Kompromiss, der langfristig diese Regelung aushebeln wird. Bei der aktuellen Debatte um die Sicherheitspolitik gelang es gerade einmal, Maximalforderungen abzuwehren. Das ist an sich schon ein Erfolg, aber andererseits auch zu wenig, um zufrieden zu sein. Rückzugsgefechte, bei denen man den einen großen Schritt nach hinten durch viele kleinerer ersetzt. Zugeständnisse der Vereine und Verbände, die gerade groß genug sind, um das Fünkchen Hoffnung, dass man selbst die Richtung mitbestimmt, am leuchten zu halten, ohne den Kurs wirklich zu verändern.
Es ist ermüdend und mein Respekt ist grenzenlos für die Leute, die sich trotzdem immer wieder aufrappeln und weitermachen, anstatt zu resignieren. Dabei wäre es so verlockend, sich einfach zu ergeben und den Fußball wieder auf die Frage zu reduzieren, wer in der nächsten Saison Meister wird, anstatt sich darum zu kümmern, wie der Fußball in 10 Jahren aussieht.
Und trotzdem, nicht mehr zum Fußball zu gehen, ist keine Option. Manchmal spielt man mit dem Gedanken, aber für mich selbst ist eigentlich gar nicht abschätzbar, wie sich ein Leben ohne Fußball anfühlen würde. Zuerst einmal liebe ich den Sport an sich. Er ist so herrlich simpel, dass sogar ich ihn verstehe. Nicht auf eine Ralf-Rangnick-Art, mit der ich die tollsten taktischen Kniffe an eine Tafel zaubern könnte, sondern auf eine intuitive. Sehe ich ein Handballspiel, das 25:24 ausgeht, weiß ich nicht, ob ich ein gutes Spiel gesehen habe, bei einem Fußballspiel kann ich ein 1:0 sehr wohl einordnen. Mit Sicherheit reicht das alles nicht für bedeutungsschwangere Analysen, aber um Fußball zu verfolgen, genügt ein wenig Basiswissen. Er bietet Rustikales und Feines, Tempo und Spannung, Überraschungen und Unvermeindliches. Manchmal ist er ästehtisch, manchmal hässlich, aber niemals wirklich belanglos. Das Spiel an sich ist toll, anders kann ich die Faszination des Fußballsports nicht beschreiben.
Und natürlich spielt die Emotionalität eine eminent wichtige Rolle. Ich glaube, für viele Fans ist Fußball einfach wichtig für das seelische Gleichgewicht. Er befriedigt Grundbedürfnisse nach Gemeinschaft und gibt die Möglichkeit, Gefühlsextreme auszuleben. Das Feiern von Siegen ist dabei genau so wichtig wie das Durchleben bitterer Niederlagen. In Bielefeld schallte es vor Spielbeginn„Wir steigen niemals ab, òle, òle“ aus dem Gästeblock. Nach dem Abpfiff schlichen die meisten mit gesenkten Köpfen aus dem Stadion. Und ja, manch einer hatte Tränen in den Augen. Vor anderen Menschen Schwäche zeigen, ohne das man sich dafür schämen muss. Wo gibt es sonst noch die Möglichkeit dazu? Ein Lied gemeinsam mit vielen tausend anderen zu singen und sich als Teil einer großen Gruppe zu fühlen, die einen nicht ausgrenzt und in der zumindest am Spieltag nur die Begeisterung für die eigene Mannschaft für die Aufnahme in diese Gruppe zählt.
Man kann Schreien, Toben, Hübfen, Jubeln, Schimpfen – das zum Ausdruck bringen, was man gerade fühlt. Alles rauslassen, was im Alltag oftmals unter einem Haufen von Kompromissen, Gepflogenheiten und Rücksichtnahme begraben wird. Ein Ventil, um Dampf abzulassen; aus sich herausgehen, ohne dass jemand Anstoß daran nimmt. Egal wie schlecht das Spiel war, irgendwie geht es mir danach doch ein Stückchen besser.
Ich weiß selbst nicht, ob ich da nicht zuviel hineininterpretiere, aber zumindest glaube ich, dass der Fußball mich auch ein Stück weit geprägt hat. Er hat mir Freude und auch schlechte Stunden bescherrt. Er hat mich aber auch anderen Menschen näher gebracht, zu neuen Freundschaften geführt und bei manchen Dingen auch Sichtweisen verändert. Und das Schöne an diesem Sport ist, dass ich nicht weiß, wohin er mich noch überall führt. Ich weiß nur: ich freu mich drauf.
Danke Fußball – bleib so wie du bist.
Sascha, 27.12.2012