Unsa Senf

Platzsturm im Wasserglas

18.05.2012, 17:18 Uhr von:  Redaktion

ARD-Brennpunkt, ZDF-Spezial, der Boulevard schäumt. Was ist passiert? Attentat auf einen Staatschef? Die Griechen wollen die Drachme zurück? Schmerzt etwa Michael Ballacks Wade erneut? Weit gefehlt! In surreal anmutender Kollektiv-Hysterie wurde stattdessen über den Düsseldorfer Platzsturm berichtet, als würden die Fortunen vom Fleck weg in Konkurrenz zu Al Kaida treten.

Direkt zu Beginn mal als Disclaimer: Nein, besonders schöne Bilder waren das nicht da in Düsseldorf. Bis der Schiedsrichter das Spiel beendet wünschen wir uns nur die Spieler plus Schiedsrichter auf dem Platz. Punkt. Dass, was die Fortunen da veranstalteten und was die Kollegen der 11 Freunde so treffenderweise mit „Schwarmdummheit“ bezeichneten, bereitete dem Fußballfan beim Zusehen beinahe schon körperliche Schmerzen.

Zu diesem Zeitpunkt aber ahnte man jedoch noch nicht, dass die geballte Mischung aus Hysterie, Ignoranz, Populismus und Dummheit, die seitdem die Diskussion beherrscht, für den einigermaßen sachkundigen Zuschauer und Stadiongänger noch deutlich schmerzhafter sein würde.

„Wir waren beim Fußball und haben es überlebt“ titelten wir im vergangenen Oktober nach dem Pokalspiel gegen Dynamo Dresden und stellten provokant fest: „Die Gewalt gehört zum Fußball, wie sie in die Gesellschaft gehört, auf Schützenfeste und Jahrmärkte und auch allzu oft in die deutschen Privathaushalte: Sie ist da und niemand wird sie abschließend aus unserem Leben und unserer Wirklichkeit verbannen können. Allein der Umstand, dass sie geächtet ist, macht sie noch lange nicht ungeschehen.“ Diese Sätze würden wir nur allzu gern auch jetzt all jenen ins Stammbuch schreiben, die über Ausschreitungen beim Relegationsspiel schwadronieren und das Geschehen in den Schlussminuten als ultimativen Beleg dafür sehen, dass im Fußball jetzt aber wirklich etwas geschehen muss.

Allein: In Düsseldorf gab es gar keine Gewalt zu beobachten.

Es müsste die momentanen Diskussionen eigentlich völlig ad absurdum führen, denn die Fans der Fortuna - im kollektiven Überschwang, nächstes Jahr Bayern München und Borussia Mönchengladbach statt Germania Ratingen und Borussia Freialdenhoven begrüßen zu dürfen – begingen zwar eine Riesendummheit, gewalt- oder zerstörungswütig waren sie jedoch nicht. Und Dummheit allein ist glücklicherweise auch nicht strafbar.

Ziemlich absurd also, dass sich ausgerechnet am Verhalten der Fortunafans eine Sicherheitsdebatte entzündet. Dabei darf man Fragen nach der Sicherheit durchaus stellen. Platzsturm ist nicht gleich Platzsturm. Wer das andere Relegationsspiel Karslruher SC gegen Jahn Regensburg gesehen hat, der dürfte schon einige Minuten vor Abpfiff erahnt haben, dass es nach dem Schlusspfiff nicht ruhig zugehen wird. Es scheint sich bei manchen Gruppierungen die Einstellung zu etablieren, dass man möglichst mit einem Knall und einer Bad-Boy-Attitüde die Liga verlassen muss. Hier sprechen wir aber von einer echten Gefahrensituation, die auch nur von wenigen Besuchern ausgeht. Für die Beurteilung ist diese Unterscheidung nach der Motivation wichtig, weil sie hilft, auch wirklich zielführende Maßnahmen zu ergreifen. Wer aber den Platzsturm in Düsseldorf beispielsweise dazu nutzt, reflexartig und pauschal nach einem Verbot von Stehplätzen zu rufen, zeigt eindrucksvoll, wie wenig er sich mit der Materie befasst hat. Ein großer Teil der Leute, die ein paar Minuten später den Rasen bevölkerte, machte sich nämlich von den Haupttribünen aus auf den Weg.

Die Fortunen waren nicht auf Gewalt aus

Als Freiburgs Trainer Christian Streich vor wenigen Wochen im Aktuellen Sportstudio zu Gast war, zeigte man ihm ein Video aus dem Amateurfußball. Dort kullerte ein Ball langsam und unaufhaltsam auf das Tor zu, bis er von einem Auswechselspieler der verteidigenden Mannschaft abgewehrt wurde, der sich neben dem Tor warmgemacht und dann regelwidrig den Platz betreten hatte. „Übersprungshandlung“, konstatierte Christian Streich ganz trocken: eben etwas, was man nicht machen dürfe, was aber seiner Meinung nach sehr vielen Fußballern im Eifer des Gefechts passieren könne.

Wie gut täte Christian Streichs nüchterne Weisheit nun auch der aktuellen Pseudo-Debatte um den Platzsturm als offenbaren Ausdruck maximalster Gewalt und Menschenverachtung?

Jenem Amateurkicker, den die Kamerabilder zeigten, waren offenbar kurz die Sicherungen durchgebrannt. Er hatte die weiße Linie missachtet, die das Spielfeld begrenzt. Er hatte dort innerhalb des Kreise-Rechtecks nichts zu suchen. Genauso wenig wie die Tausenden Fortunen, die am Dienstag ihre Tribünen verließen, um auf dem Rasen den Aufstieg ihres Vereins zu feiern, noch bevor das Spiel abgepfiffen war.

Was in den Ganzen Diskussionen leider zu kurz kommt: Die Rotweißen bevölkerten den Rasen, weil sie feiern wollten, weil sie sich freuten. Sie waren sichtbar nicht aus auf Gewalt und Zerstörung, sie hatten einzig den Fehler gemacht, einen Pfiff des Schiedsrichters falsch zu verstehen.

Man kann sich im Grunde leicht vorstellen, wie alles passierte: Der erste glaubt, dass das Spiel beendet ist und läuft los. Die nächsten sehen den Loslaufenden und glauben nun ebenfalls an den Abpfiff. Ehe man sich versieht sind plötzlich Hunderte und Tausende Leute auf dem Rasen und wissen gar nicht, was sie da gerade anrichten. Das ist ein ebenso ärgerliches wie einfaches Massenphänomen und für Psychologen höchstwahrscheinlich sogar völlig uninteressant, weil diese schon lange wissen, dass Menschenmassen eben genau so ticken.

Gar keine Frage: Dass es zu diesem Sturm auf den Rasen kam, war falsch. Wir Fans haben auf dem Rasen nichts zu suchen, das gilt mindestens und unbedingt für die Zeit zwischen An- und Abpfiff.
Wie bitter wäre es schließlich gewesen für die Düsseldorfer, Wolfgang Stark hätte das Spiel wirklich abgebrochen? Wie bitter wäre es, der DFB würde wider Erwarten nun gegen die Fortuna und für die Hertha entscheiden und den märchenhaften Aufstieg der Düsseldorfer aus der vierten in die erste Liga doch noch in eine Tragödie verwandeln? Unvorstellbar!

„Was hätte da nicht alles passieren können?“, wird nun gefragt. Ja, was denn genau? De facto waren Unmengen von diesen ach so unberechenbaren Männern, Frauen und Kindern (!) auf dem Platz. De facto hatten diese am Ende fast noch schneller wieder den Rasen verlassen, als sie ihn zuvor bevölkerten, als sie den Bockmist bemerkten, der ihnen da unterlaufen war. Und de facto wurde aber dennoch keinem Spieler, keinem Zuschauer und auch keinem aus dem Schiedsrichterteam ein Haar gekrümmt. Natürlich kann man sich alle möglichen Szenarien ausdenken. Wenn ein Berliner Spieler das 3:2 gemacht hätte als die ersten Zuschauer schon die Werbebanden überwunden hatten, dann... der Konjuktiv ist geduldig. Mit dieser Argumentationsform kann man die Existenz derartiger Großveranstaltungen allerdings generell in Frage stellen. Was wäre, wenn „der Terrorist“ auf der Tribüne sitzt? Und so weiter. Das Ausmalen von Horrorszenarien schürt Hysterie und macht eine realistische Betrachtung der Vorkommnisse unmöglich.

Auch das Fazit der Polizei nach Spielende will so gar nicht zu den Gewalttaten passen, die uns vom Boulevard bis tief in die Qualitätsmedien hinein nun skizziert werden. „So kam es weder vor, während noch nach dem Spiel zu gravierenden körperlichen Auseinandersetzungen oder Gewalt.“, fasst der Polizeibericht die Ereignisse zusammen und ergänzt: „Trotz eines hochdramatischen Verlaufs und der großen Emotionalisierung beider Fanlager blieb es aus polizeilicher Sicht während des Spiels weitestgehend friedlich.“

Die einzige bislang bekannt gewordene Gewalttat in diesem ganzen Treiben ging vielmehr offenbar von Herthas Spieler Levan Kobiashwili aus, der Schiedsrichter Stark geschlagen haben soll.

Vor diesem Hintergrund ist es unerträglich, wie sich nun ausgerechnet jene Berliner als Opfer gerieren. Immerhin war es der Hertha-Anhang, der durch unverantwortliches und wirklich gefährliches Verhalten überhaupt erst für die lange Nachspielzeit gesorgt hatte, nachdem aus dem Gästeblock heraus gleich mehrfach Pyrotechnik in Richtung Spielfeld geworfen wurde.

Es scheint, als hätten die Hardliner gewonnen

Um das klar zu sagen: Pyrotechnik ist verboten. Pyrotechnik im engen Fanblock und in unmittelbarer Nähe von brennbaren Fahnen ist zudem scheiße gefährlich. Wer aber Bengalos und Böller sogar in Richtung anderer Menschen wirft, handelt kriminell und gehört bestraft. Diese Unsitte ist leider auch in Dortmund trotz der Distanzierung der drei großen Ultragruppen immer noch vereinzelt zu verzeichnen.

Was die Pyrotechnik allgemein betrifft, so war die momentane Entwicklung leider abzusehen. So konstatierten wir bereits im Januar: „Mit seinem dynamischen Wendmanöver (in der Pyro-Frage) und dem Abbruch der Gespräche, ließ der DFB die Realos nun nicht nur im Regen stehen. Er hat ihnen zusätzlich ins Gesicht geschlagen, sie verhöhnt und ihre Position innerhalb der Fanszenen geschwächt.“

Heute, ein paar Monate später, sehen wir unsere Befürchtung bestätigt. Die Verbände haben durch ihre angetäuschte Dialogbereitschaft und den anschließenden Abbruch der Gespräche den moderaten Kräften in Deutschlands Ultra-Szenen vor den Kopf gestoßen, sie haben sie verarscht und damit ihren Einfluss vernichtet. Es scheint, als hätten dadurch nun jene Hardliner gewonnen, die schon zuvor gegen einen Dialog mit den Verbänden und für die Konfrontation gewesen waren. Den Vernünftigen fällt es nun schwerer, auf sie einzuwirken.

Doch zurück zum Thema Platzsturm. Wenn in diesem Zusammenhang nun von einer „neuen Qualität“ die Rede ist, negiert das die Realitäten völlig. Platzstürme hat es schon immer gegeben. In den 60er und 70er Jahren umringen die Zuschauer bei bedeutsamen Spielen und über die gesamte Spielzeit beinahe in Streichelnähe das Spielfeld. Als Jürgen Wegmann 1986 und ebenfalls in der Relegation gegen Fortuna Köln zum 3:1 traf, wurde er umgehend auf dem Spielfeld von einem Fan umarmt. Und 1991, bei der Meisterschaft des 1. FC Kaiserslautern, war es sogar Reinhold Beckmann persönlich – jener Reinhold Beckmann, der noch am Dienstag in der ARD den Untergang des Abendlandes gekommen sah - der die sich zum Platzsturm rüstenden Fans um sich herum ziemlich gelassen zur Kenntnis nahm, wie die Redaktion von publikative.org dankenswerterweise entdeckt hat. Nach einem Tor von Markus Schupp fluteten die Lauterer damals ebenfalls kurzfristig den Rasen, um diesen wenig später binnen Sekunden wieder freizumachen, damit weitergespielt werden konnte. Opferzahlen sind aus dieser Partie übrigens ebenso wenig bekannt, wie aus jenem Aufstiegsspiel der Fortuna im Jahr 1989, wo Michael Preetz höchstselbst seine eigene Sicherheit in der Menge feiernder Fans offenbar noch viel stärker gewährleistet sah, als dies am Dienstag bei seinen Spielern der Fall war (zu finden bei Youtube unter dem Suchbegriff "Michael Preetz genießt Platzsturm").

Echte Liebe oder unwürdiger Rahmen?

Schauplatz Dortmund: Auch bei uns sind wir leider nicht frei von unsachlichen Reaktionen. Nachdem am 34. Spieltag beim Überreichen der Meisterschale der Platz ebenfalls geflutet wurde, beklagte auch der BVB in Person von Hans-Joachim Watzke, „dass die echten Fans durch eine Minderheit um eine angemessene Feier gebracht wurden.“ Echte Fans, unechte Fans – geht es nicht auch etwas kleiner? Watzke legte noch einmal nach: "Der würdige Rahmen wurde durch eine Minderheit komplett zerstört, die nach dem Spiel den Rasen gestürmt hat.“ Das ist aber allenfalls die halbe Wahrheit, denn realistisch betrachtet war ein würdiger Rahmen bereits zu dem Zeitpunkt nicht mehr möglich, als die Entscheidung zur Übergabe auf der Westtribüne gefallen war, wo Mannschaft und Schale für die Mehrheit der Zuschauer bestenfalls noch mit einem Fernglas zu erkennen waren. Das gesamte Prozedere an diesem Tag war nicht dazu geeignet, einen würdigen Rahmen zu schaffen. Es war geplant wie ein normaler Spieltag, an dem zufälligerweise am Ende noch die Meisterschale überreicht wird. Keine Spur von dem Glamour, wie ihn beispielhaft das Finale in Berlin und die Siegerehrung dort verbreiteten. Sogar die Mannschaft schien mit ihren Gedanken (verständlicherweise) bereits eine Woche weiter, aufs eben jenes Finale fokussiert.

Vermutlich war der Platzsturm das einzige, was den Tag überhaupt nach Meisterschaftsfeier hat aussehen lassen.

Und trotzdem konnte man ihn auch als Zuschauer berechtigterweise doof finden. Eben weil man nach dem Blick auf die Siegerehrung auch noch um die Ehrenrunde dieser Mannschaft gebracht wurde. Da ist der Ärger dann sogar verständlich.

Satirische Gegenüberstellung von einer BVB-Werbung mit Platztsturm mit der BVB-Kritik am PlatzsturmWeit weniger verständlich sind jedoch die Verve, mit der die Diskussion im Anschluss bisweilen geführt wurde, und die scheinheiligen Reaktionen von Vereinsseite. Soweit wir es nach vollziehen konnten, hat es bei praktisch jedem Meistertitel der Borussen, einschließlich jenen in den 50er Jahren einen Platzsturm gegeben. Die Feierlichkeiten 1995 nahm der BVB zu seinem 100. Geburtstag vor drei Jahren gar zum Anlass, sie via Plakat als Beleg für echte Liebe heranzuziehen. Die Bilder des gefüllten Rasens wurden vom Verein letztes Jahr ebenfalls zur Eigenwerbung genutzt und kurz bevor der Verein in diesem Jahr den Platzsturm via Pressemitteilung geißelte, veröffentlichte er noch Bilder davon bei Facebook, die ebenfalls mit „Echte Liebe“ betitelt waren.

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ja, es gibt Probleme in und um Deutschlands Stadien herum. Es gibt gewaltbereite Zuschauer und Fans, es gibt vereinzelte Ausschreitungen und es gibt insbesondere in Sachen Pyrotechnik eine ungute Entwicklung hin zu mehr Feuer und mehr Gefahr. Wer nun aber im hysterischen Wahn echte Randale, wirkliche Schlägereien und real brennende Pyrotechnik mit aus der Freude entstandenen Platzstürmen gleichsetzt, schadet dem Fußball und der Diskussion um diese negativen Phänomene gleichermaßen. Wer einen Platzsturm nach Aufstieg oder Meisterschaft zum Großproblem stilisiert, nur weil verhältnismäßig viele Personen daran beteiligt waren und weil die Bilder möglicherweise so eindrucksvoll sind, relativiert in Wahrheit nur die echten Gewalttaten, die meist gar nicht von den Kameras erfasst werden.

Wer wirklich ein Interesse hat, Gewalt und Pyrotechnik einzugrenzen, der befasst sich mit den Gründen und Ursachen. Wer wirklich ein Interesse daran hat, unterstützt die Fachleute in Form von Fanbetreuungen und Fanprojekten bei ihrer Arbeit, vertraut auf ihr Fachwissen und ihre Expertise und stellt nicht, wie beispielsweise noch vor wenigen Jahren in Dresden der Fall, ihre Finanzierung in Frage. Was aber niemand in dieser Diskussion braucht, sind Institutionen oder Personen, die die Vorfälle zu ihrem ganz eigenen Zweck nutzen und daraus Kapital schlagen wollen. Seien es die Herthaner, die einen letzten Strohhalm zum Klassenerhalt suchen, oder berufsbetroffene Medienvertreter im schrillen Kampf um Einschaltquoten und Marktanteile.

Wer dieses Interesse nicht hat, wem es wahlweise nur um den Erhalt eines Marketingprodukts oder das Verbreiten populistischer Forderungen geht, der zündet Nebelkerzen und fokussiert sich einzig und allein auf die medial wirksamen Bilder. Die aber bilden nicht selten nur einen Bruchteil der Realitäten ab.

Erfreulicherweise setzen sich nach anfänglicher Hysterie inzwischen verstärkt auch die leisen Stimmen durch. Die sachlichen Analytiker. Drei dieser sehens- beziehungsweise lesenswertesten Beiträge wollen wir Euch nicht vorenthalten:

Sascha und Arne, 18.05.2012

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