Schauspielhaus Bundesliga
Am Wochenende zeigte die Bundesliga mal wieder eindrucksvoll, warum man auch gerne von der „Fußballbühne" spricht. In Hamburg bekamen die Zuschauer den nächsten Akt aus dem Lustspiel „Halb zog es ihn, halb sank er hin" geboten. Nach einem Foul der fieseren Art von St. Paulis Matthias Lehmann an Gladbachs Igor de Camargo erklärte der Brasilianer seinem Gegenüber intensiv, was er von der Aktion hielt. Dummerweise berührte er Lehmann dabei zart mit der Stirn, woraufhin dieser folgerichtig zu Boden sank. Angesichts dieser schauspielerischen Darbietung verblasste sogar die ebenso tolle Darstellung hoffnungsvoller Nachwuchstalente wie Lauterns Lakic oder Werder Bremens Dauerschwalbe Marko Marin.
Nein, neu ist Lehmanns Schauspieleinlage nicht in der Bundesligageschichte. Wer erinnert sich nicht an den legendären „Doppelkopfstoß" zwischen Norbert Meier und Albert Streit? Oder an Andi Möllers Elfmeter-Schwalbe gegen den KSC, bei der er ungefähr einen halben Meter vom Fuß des Gegenspielers entfernt abhob? Neu hingegen ist die Unverfrorenheit, mit der Lehmann seinen Betrug eingestand. Meier und Streit blieben wenigstens kurzzeitig bei der Darstellung, dass sie jeweils vom Gegenüber getroffen worden wären und Andi Möller zeigte sich sogar kreativ und erfand kurzerhand die Schutzschwalbe. Matthias Lehmann hingegen erklärte grinsend, dass er dieses Geschenk gerne angenommen habe. Soll man ihm jetzt positiv anrechnen, dass er nicht groß um den Brei herum geredet hat – oder doch eher angewidert sein, mit welcher Selbstverständlichkeit mittlerweile Spieler zugeben, dass sie den Fairnessgedanken mit Füßen treten? Das darf jeder gerne für sich beantworten. Tatsache ist jedoch, dass Lehmann nur der letzte Akteur in einem erbärmlichen Trauerspiel ist – und auch nur ein Akteur von vielen. Man regt sich zwar gerne darüber auf, aber in Wahrheit trägt jeder sein Scherflein dazu bei, dass solche Schwindler ein erträgliches Einkommen als Pseudo-Sportler in der Bundesliga haben.
Das Ganze ist eine Entwicklung über viele Jahre hinweg. Unsportliches Verhalten hat sich absolut etabliert und wird nur noch wahrgenommen, wenn es aus der Masse heraus ragt. Wer regt sich denn noch darüber auf, wenn Wochenende für Wochenende in der Bundesliga die Gesetze der Physik außer Kraft gesetzt werden, weil ein Spieler im Laufen von hinten am Trikot gezupft wird und mit dem Oberkörper voran fällt? Keine Frage, wird man im vollen Lauf am Trikot gehalten, kann einen das außer Tritt bringen. Aber wenn die untere Körperhälfte sich nach vorne bewegt, der Oberkörper aber abrupt abgebremst wird, sollte man doch annehmen, dass sich derjenige eher auf dem Hosenboden wiederfindet, als waagerecht und mit dem Kopf voran in der Luft.
Oder ein anderer, alltäglicher Fall im Profifußball: Ein Stürmer und ein Verteidiger im Strafraum. Der Verteidiger legt die Hand auf die Schulter des Gegenspielers, der daraufhin hinfällt und auf den Elfmeterpfiff wartet. Hand aufs Herz: Wer ist der Meinung, dass die Hand dort nichts zu suchen hat und der Elfer gegeben werden muss? Wenige? Einige? Fast alle? Natürlich wird in diesem Fall auf Strafstoß entschieden und die Wenigsten würden Einspruch erheben. Dabei müsste man sich eigentlich vor Lachen kugeln bei dem Gedanken, dass durchtrainierte, muskulöse Männer zu Boden sinken, weil ihnen ein anderer an die Schulter greift. Versucht das mal probeweise beim Hobbykick mit Freunden. Beim ersten Mal erntet man vielleicht noch Gelächter, nach dem zweiten Mal sorgt folgerichtig und dankenswerterweise jemand dafür, dass man Grund zum Hinfallen bekommt.
Theatralik und Schauspiel gehören einfach dazu. Sie sind voll akzeptiert, bei allen Beteiligten. Und wie weit ist der Schritt dann noch von einer theatralischen Geste, mit der man dem Schiedsrichter eindringlich begreiflich machen will, dass man gefoult wurde, bis zur Schauspieleinlage, ohne dass ein Foul vorliegt? Dabei ist die Darstellung der Laienschauspieler oftmals so grotesk schlecht, dass es früher nicht einmal zu einer Nebenrolle in Peter Steiners Theaterstadl gereicht hätte. Macht aber nichts, Hauptsache der Schiri pfeift.
Ein Stück weit kann man sogar verstehen, dass fast jedes Mittel genutzt wird, um einen Vorteil zu erreichen. Für die Spieler geht es um Erfolg und damit einhergehend um Geld. Für Trainer um ihren Job, für Vereinsführungen um noch mehr Geld und für die Fans um das befriedigende Gefühl eines Sieges. Dafür nimmt man dann auch gerne eine jämmerliche Bigotterie in Kauf.
Wie viele Spieler beklagen sich, dass der Schiedsrichter ein klares Foul nicht gepfiffen hat, obwohl der gleiche Kicker schon aus früheren Spielen für seine Fallsucht bekannt ist oder sich mit grinsenden Mannschaftskameraden abgeklatscht hat, die sich gerade offensichtlich elfmeterreif haben fallen lassen? Schiedsrichter zücken lieber für „übermäßigen Torjubel" und Trikotausziehen die Gelbe Karte, obwohl sie selbst den Sinn dieser Regel genau so wenig verstehen wie jeder andere im Stadion, statt einem sterbenden Schwan Gelb zu zeigen und den Oscaranwärter im Wiederholungsfall vom Platz zu stellen.
Trainer, Manager und Präsidenten sülzen beim Anblick eines brennenden Bengalos im Fanblock (ohne das jetzt selbst werten zu wollen) ihre Betroffenheitsrhetorik von den „Leuten, die den Sport kaputt machen" in jedes Mikrofon, scheuen sich aber auch davor, eigene Spieler, die den Fairplay-Gedanken nur vom Hörensagen kennen, für mindestens ein Spiel auf die Tribüne zu verfrachten, wo sie dem Fußballsport nicht mehr schaden können. Für manche Spieler ein Glücksfall. Bei einem stark leistungsbezogenen Vertrag müsste der ein oder andere Hartz IV beantragen. In den Medien wird ein Spieler als schlitzohrig bezeichnet, wenn er sich im Strafraum einhakt, fallen lässt und einen Elfer rausholt. Bei den gleichen Medien, die einen Zweikampf aus 10 verschiedenen Kameraeinstellungen und in Zeitlupe wiederholen, um dann aus der klitzekleinsten Berührung ein Foul zu rekonstruieren – statt einfach darauf hinzuweisen, dass der Sturz mimosenhaft und peinlich ist.
Nicht zuletzt tragen auch wir Fans unseren Teil dazu bei, indem wir häufig bei Spielern der eigenen Mannschaft weggucken. Die Dreckssäcke spielen immer woanders. Wer von uns hat wirklich den Mut und vor allem den Willen, einem eigenen Kicker seine Meinung zu einer Schwalbe entgegenzubrüllen und ihm klar zu machen, dass er beim nächsten Mal gerne seinen Koffer packen kann? Und wer blendet das nicht viel lieber aus und freut sich darüber, dass man aus elf Metern aufs Tor schießen darf?
Alle spielen mit, gemeckert und echauffiert wird sich nur dann, wenn man auf der Opferseite ist. Alles Krokodilstränen. Im Endeffekt wird es doch von den einen gefördert, von den anderen geduldet. Dabei könnte man das Rad der Geschichte zurück drehen, wenn Trainer und Fans auch ihre eigenen Schauspieler konsequent bestrafen. Wenn die Sportsgerichtsbarkeit zumindest versuchen würde, den Beton „Tatsachenentscheidung" aufzuweichen und nachträgliche Sperren für derart krass sportwidriges Verhalten zu ermöglichen. Und natürlich auch jeder Spieler, in dem er sich selbst und seine Mitspieler an die grundlegende Fairness erinnert. Schließlich geht jeder von uns ins Stadion, um diesen wunderbaren Sport zu sehen – und nicht für ein Schmierentheater.